Kapitel 22

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Aurora

Ich stand seelenruhig auf, faltete die beiden Blätter und legte sie auf mein Nachttischchen. Nachdem ich ins Badezimmer gegangen war, wusch ich mir die vertrockneten Tränen von den Wangen. Mit einem Handtuch trocknete ich mein Gesicht ab. Meine Schuhe hatte ich immer noch an. Ich nahm die beiden Blätter wieder in die Hand und machte mich auf den Weg.

Draussen lief ich geradewegs zu seiner Hütte. Dreimal klopfte ich an die Tür, dann wartete ich. Die Tür wurde blitzschnell aufgerissen und ich erblickte Aren. Er sah nicht gut aus, sein Haar war noch verstrubbelter als sonst und unter seinen Augen entdeckte ich dunkle Schatten. Doch als er mich sah, erschien ein leuchten in seinen Augen, heller wie der Mond gestern. Er blickte meine Hand an, in der ich den Brief hielt. Einen Moment lang war es still.
«Stimmt das alles, was du geschrieben hast?», fragte ich. Meine Stimme zitterte leicht.
«Ja», sagte er.
Ich blickte ihm in die Augen.
«Dann verzeihe ich dir», flüsterte ich und umarmte ihn.

Obwohl es Nacht war, sprachen wir noch lange. Ich erzählte ihm, wie ich meine Mutter getroffen hatte und was sie mir gesagt hatte. Ich sprach darüber, wie ich mich fühlte, die Schuld, die mich umgab. Ich weinte sogar. Aber es war mir egal. Und er hielt mich im Arm, spendete mir Wärme und Geborgenheit und tröstete mich.
Keineswegs war ich über alles hinweg, was passiert war, aber es fühlte sich gut an.
Irgendwann waren wir beide unglaublich müde und hatten sowieso noch Schlaf nachzuholen.
Unsicher blickte ich ihn an, dann zwang ich mich, die Worte herauszupressen.
«Aren, ich weiss nicht, ob ich heute Nacht alleine schlafen kann.»
Er nickte und sagte:
«Du kannst gerne hier schlafen, wenn du willst.»

Kurz vor dem Einschlafen murmelte ich leise:
«Es sollte dich nicht stören, dass du nicht nur ein Mensch bist. Es macht dich zu etwas Besonderem.»

Ein leises Poltern an der Tür weckte mich auf. Als ich die Augen öffnete, sah ich, wie Aren zur Tür hinging. Oder besser gesagt hin schlurfte. Bei dem Anblick zogen sich meine Mundwinkel leicht nach oben. Als er die Tür öffnete, hörte ich eine bekannte Stimme.
«Glaube mir, ich würde nicht mit dir sprechen, wenn es nicht dringend wäre. Ich weiss, was du Aurora angetan hast. Aber ich mache mir Sorgen um sie, und ich weiss nicht, wo sie ist. Meister Kontu sucht sie. Also, verschwende nicht meine Zeit und sage einfach, ob du weisst, wo sie ist.»
Kommentarlos weitete er die Tür, so dass Amelia mich sehen konnte. Mit einem erstaunten Aufschrei kam sie auf mich zu gerannt.
«Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, als ich gehört hatte... bist du okay?»
Ich lächelte leicht und etwas gezwungen.
«Ja, es geht so...»
«Ich werde gleich nachbohren, aber zuerst...»
Sie blickte von Aren zu mir, zu Aren und dann wieder zu mir.
«Was...?»
«Ja, wir haben miteinander gesprochen und es ist alles wieder gut zwischen uns.»
Sie blickte mich verwundert an.
«Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dieses Gespräch weiterführen möchte. Aber Meister Kontu will dich sehen.»
Bei diesem Gedanken zog sich alles in mir zusammen. Ich hatte ihn erst einmal gesehen. Und das war nicht das beste Gespräch gewesen, das ich jemals geführt hatte. Ich erinnerte mich daran, wortlos herausgestürmt zu sein. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Und nun würde er mich wahrscheinlich herausschmeissen. Meine Augen weiteten sich bei diesem Gedanken.
Daran hatte ich gar nicht gedacht. Aber was hatte er für eine andere Wahl? Ich hatte jemandem umgebracht.
«Soll ich dich begleiten?», fragte mich Aren.
«Nein, ist schon gut. Danke.»
Ich lächelte leicht.
«Treffen wir uns nachher beim Mittagessen?»
«Ja, ich stosse nach dem Gespräch mit Meister Kontu zu euch», antwortete ich.
Ich verschwieg ihm, dass ich das Gefühl hatte, dass es für mich hier kein Mittagessen mehr geben würde.

Amelia und ich traten hinaus. Sobald die Tür mit einem dumpfen Schlag geschlossen worden war, grub sie ihre Finger in meinen Arm, so fest, dass ich leise aufschrie.
«Autsch, was machst du da?», rief ich. Aber sie schaute mich nur mit grossen Augen an.
«Ich glaube es immer noch nicht. Du. Aren. Du.»
«Aren. Ich. Aren», sagte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
«Ich habe gestern jemanden umgebracht und wieder zurückgeholt und das kannst du nicht fassen?», sagte ich ironisch.
Doch gleichzeitig spürte ich einen Stich im Herzen. Es war definitiv noch zu früh, um Witze darüber zu reissen.
«Jaja, ich weiss. Tod. Du kannst Lebewesen heilen, bla, bla, bla. Und jetzt zurück zu dir und Aren.»
Ich verdrehte meine Augen. Sie liess einfach nicht locker.
«Na gut, sprechen wir darüber. Aber ich weiss wirklich nicht, was es da zu erzählen gibt. Er hat mir gestern einen Brief geschrieben, indem er mir erklärt hat, warum er sich so verhalten hat.»
«Kann ich ihn lesen?»
«Nein!», rief ich sofort.
«Ganz bestimmt nicht.»
«Ach komm schon.»
«Nein, das ist... du weisst schon, privat.»
«Tss, ich habe noch nie viel von Privatsphäre gehalten.»
«Ach, wirklich?», sagte ich gespielt erstaunt.
Sie ignorierte meine Bemerkung.
«Sag mir wenigstens, was darin gestanden ist.»
Ich gab mich geschlagen.
«Ja, von mir aus. Er hat einfach gesagt, dass er nicht weiss, wie es sich anfühlt, sich jemandem anzuvertrauen, dass er einfach unsicher war. Und vorgestern, da hat er herausgefunden, dass er das Kind aus den zwei Welten war. Dass wegen ihm dieser ganze Krieg überhaupt angefangen hat. Er hat sich dann unglaublich verlassen gefühlt, er wusste oder weiss nicht, wo er hingehört. Und deswegen ist er so ausgeflippt.»
Ihre Hand, welche immer noch meinen Arm umfasst hatte, grub sich - ich weiss gar nicht, wie das überhaupt möglich war - nochmals zehnmal stärker in meinen Arm hinein. Ich ging in die Knie und sagte unter zusammengebissenen Zähnen.
«Du brichst mir den Arm!»
«Nichts Besonderes? Nichts Besonderes?», kreischte sie so hoch, dass es nur Hunde hören konnten.
Plötzlich erstarrte ich. Hatte ich ihr das gerade überhaupt erzählen dürfen?
«Sag es niemandem. Ich weiss nicht, ob ich es dir hätte sagen dürfen.»
«Ja, ja...», sagte sie geistesabwesend.
«Amelia...»
Sie blickte mir in die Augen.
«Versprochen.»
Vorsichtig befreite ich mich ihrem brutalen Klammergriff und richtete mich auf.
«Ich muss jetzt los, zu Meister Kontu», sagte ich.
«Ja, ist gut», sagte sie.
«In dieser Zeit kann ich das gerade gesagte verarbeiten. Aber noch eine Frage: Magst du Aren?»
«Natürlich, sonst wäre ich nicht mit ihm befreundet», antwortete ich und sah sie irritiert an.
Sie verdrehte die Augen.
«Ich meine, magst du ihn?»
«Nein!», rief ich entsetzt. Plötzlich konnte ich gar nicht schnell genug von hier wegkommen.

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt