Kapitel 6

224 28 9
                                    

Aurora

Langsam öffnete ich meine Augen. Ich musste erst ein paar Mal blinzeln, um mich an das Licht zu gewöhnen. Wo war ich? Die Erinnerungen an letzte Nacht kamen zurück. Warum lag ich nicht verfroren auf dem Boden im Wald? Nach einigen Sekunden, in denen sich meine grauen Hirnzellen ordentlich angestrengt hatten, realisierte ich: Jemand musste mich gefunden haben! Mein Puls beschleunigte sich. Wer war zu dieser Zeit an einem so verlassenen Ort gewesen? Und warum?

Ich setzte mich auf und spürte, wie viele Teile meines Körpers schmerzten. Wahrscheinlich waren die Verletzungen entstanden, als ich völlig geschwächt auf den Boden gefallen war.

Neugierig, aber vor allem ängstlich und voller Panik, blickte ich mich um. Auf beiden Seiten von mir befanden sich weitere Betten, insgesamt waren es vielleicht fünfzehn. Viele waren frei; nur zwei waren besetzt, welche aber beide weit hinten waren und so konnte ich die Personen darauf nicht genau erkennen.

«Leg dich lieber nochmals hin, du bist noch zu schwach, um aufzustehen.»
Erschrocken drehte ich mich um. Neben mir stand eine junge Frau mit hellblonden, glatten Haaren. Sie war eher klein und beim Näherkommen sah man ihr die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Ich wich von ihr zurück, meine Augen weiteten sich vor Angst und mit dem einen Fuss berührte ich schon den hölzernen Boden.
«Hey, beruhige dich, ganz ruhig. Leg dich zurück ins Bett.»
Ich stieg nicht weiter aus dem Bett, sondern verharrte in meiner Position und blickte ihr unsicher in die Augen. Nach einigen gescheiterten Versuchen zu sprechen, schaffte ich es schlussendlich, einen Satz herauszubringen.
«Wo bin ich? Und wer hat mich...»
«Trink das», unterbrach sie mich und hielt mir einen Becher hin.
Ich starrte den Becher intensiv an. Im ersten Moment wollte ich sofort ablehnen. Ich wollte nichts von einer fremden Person annehmen, die mir nicht einmal sagen wollte, wo ich war. Aber dann spürte ich, wie trocken meine Kehle war. In mir wütete ein Kampf zwischen meinem Verstand und meinem Körper, der sich komplett ausgetrocknet anfühlte. Ich blickte sie an, immer noch unsicher, was ich tun sollte.
«Wir haben dich gerettet. Warum würden wir jetzt versuchen, dich zu töten?», fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ja, dieses Argument machte durchaus Sinn. Bevor mein Verstand noch überlegen konnte, ob es nicht doch einen Grund gab, mich zu töten, griff ich nach dem Becher und in nur drei Zügen hatte ich den ganzen Inhalt ausgetrunken. Erst da bemerkte ich den seltsamen Geschmack der Flüssigkeit. So schnell, wie die Flüssigkeit meine Kehle hinabgeflossen war, wollte sie auch wieder hinauf. Ich unterdrückte meinen Würgreiz mit aller Kraft.
«Was ist das?», krächzte ich hervor und legte vorsichtshalber eine Hand vor meinen Mund, damit ich es nicht auskotzen konnte.
«Eine Kräutermixtur, damit du schnell wieder gesund wirst», antwortete sie.
Entweder das, oder sie wollten mich wirklich vergiften. So oder so war es jetzt zu spät, um noch etwas zu ändern.
«Du musst dich noch ein paar Tage ausruhen, du bist immer noch sehr schwach. Wir waren uns nicht einmal sicher, ob du überhaupt überleben würdest.»
Mechanisch legte ich mich zurück ins Bett. Es war, als ob die Müdigkeit Gestalt angenommen hatte und mich nun dazu zwang, mich hinzulegen. Mit aller Kraft versuchte ich, meine Augen offen zu behalten. Ich wollte jetzt nicht einschlafen. Ich wollte wissen, was das hier war. Ich wollte... Aber ich spürte meine Erschöpfung und wie ein dunkler Schleier legte sich der Schlaf über mich. Langsam, unaufhaltsam.

Ich öffnete die Augen. Für ein paar Sekunden wusste ich nicht, wo ich war, aber dann erinnerte ich mich wieder daran. Auf einmal war ich hellwach, ich hatte Fragen, so viele Fragen! Meine Angst, die ich gestern noch so stark gespürt hatte, war weg und hatte ihren Platz voll und ganz der Neugierde überlassen.
Ich schlüpfte aus dem Bett und wollte den Raum schon verlassen, als jemand mich aufhielt.
«Warte, nicht so schnell!», rief eine Frau und berührte mich am Arm. Es war die gleiche von gestern, erinnerte ich mich. Oder war es gestern? Ich hatte keine Ahnung, mein Zeitgefühl war völlig durcheinander. Ich zog meinen Arm zurück und trat einige Schritte rückwärts. Nun verspürte ich doch wieder etwas Furcht, aber ich begann auch, wütend zu werden. Ich wollte endlich, dass diese Frau mir erzählte, was das hier für ein Ort war und nicht, dass sie meinen Fragen wieder auswich und mir einfach irgendeinen Schlaftrunk verabreichte.
«Wo bin ich hier? Ich will jetzt endlich wissen, was das hier ist!»
Meine Stimme war lauter als beabsichtigt und ich versuchte, meine Panik, die nun langsam auch wieder aufkeimte, zu unterdrücken. Doch wieder beantwortete sie meine Fragen nicht.

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt