Kapitel 25

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Niemand weiß, was er kann, bevor er es versucht.
(Publilius Syrus)

Aurora

Der Rückweg verlief relativ schweigsam. Ich glaube, wir beide wussten nicht, wie wir auf das gerade geschehene reagieren sollten. Oder war nur ich es gewesen, die etwas gefühlt hatte? Aber mich beschlich das Gefühl, dass auch er eine Spannung wahrgenommen hatte. Es dämmerte nun langsam und der Wald wurde noch dunkler, als er ohnehin schon war. Es wurde merklich kälter und ich fühlte Erleichterung in mir aufsteigen, als unser Lager in Sicht kam. Menschen waren keine zu sehen, also mussten sie noch beim Abendessen sein. Aber ich verspürte keinen Hunger und beschloss, direkt ins Bett zu gehen. Wir kamen vor meiner Hütte an.
«Ich sollte gehen, ich muss morgen früh aufstehen.»
Ich blickte ihn an.
«Wirklich? Warum?»
«Ich muss mit einer Gruppe bei Sonnenaufgang in den Wald gehen und schauen, ob wir Wesen finden, die zu gefährlich oder zu aggressiv sind.»
«Und sie umbringen, nicht wahr?», murmelte ich.
Er nickte.
«Also dann: gute Nacht», sagte er.
«Ja, gute Nacht.»
Er lief schon weg, als ich ihm noch hinterherrief:
«Danke für den Nachmittag. Du hast mich meine Probleme für ein paar Stunden vergessen lassen.»
Er drehte sich um und lächelte mich an. Automatisch zogen sich auch meine Mundwinkel leicht nach oben.

Ich legte mich gleich danach ins Bett. Und erstaunlicherweise schlief ich schnell ein.

Am nächsten Morgen stand ich auf und fühlte mich wach und zufrieden. Daran war ich mich gar nicht gewöhnt. Ich zog schon jetzt meine Trainingssachen an und machte mich auf zum Frühstück. Die Leute warfen mir zwar noch verstohlene Blicke zu, aber niemand sprach mehr über mich und sie schienen mich zu akzeptieren. Das war für den Moment genug. Ich setzte mich zwischen Amelia und Aren, welche schon am Tisch sassen.
«Du bist heute in guter Stimmung», sagte Amelia.
«Ja, ich weiss auch nicht warum. Aber es ist ein gutes Gefühl.»
Ich drehte leicht meinen Kopf und blickte mit einem leisen Lächeln auf den Lippen zu Aren. Nach dem Frühstück machte ich mich auf zu Meister Kontus Hütte, wo ich mich mit ihm treffen sollte. Ich war aufgeregt, da ich überhaupt keine Vorstellung davon hatte, was nun auf mich zukommen würde.

Meister Kontu stand vor seinem Haus und lächelte mich an.
«Komm mit mir hinters Haus, dort können wir mit deinem Training beginnen.»
Ich folgte ihm und wir betraten eine kleine Lichtung, neben der der Wald begann. Wir standen uns gegenüber. Ich verschränkte meine Arme. Die Trainingsklamotten waren nicht für Kälte geeignet.
«Zuerst musst du lernen, dein Amber zu kontrollieren. Also versuche nun, egal was passiert, ruhig zu bleiben.»
Ich nickte. Das konnte nicht so schwierig sein - oder?
«Aurora, du bist so allein. Ganz allein. Deine Mutter ist gestorben, dein Vater und dein Bruder sind tot. An sie kannst du dich nicht einmal erinnern.»
Ich zuckte zusammen. Was tat er da?
«Du wirst diese Leere nie mehr füllen können. Und jetzt, da du jemanden umgebracht hast, wirst du auch hier niemals eine neue Familie finden.»
«Hören Sie bitte auf damit», flüsterte ich leise.
«Alle haben Angst vor dir.»
Ich spürte die Wärme, versuchte sie zu unterdrücken.
«Du bist nicht eine von uns. Du hast andere Kräfte, unheimliche Kräfte. Wie können sie, wie können wir dich jemals akzeptieren?»
«Hören sie auf damit!», rief ich laut.
Ich hielt mir dir Ohren zu, ging leicht in die Knie.
«Bitte», schrie ich.
«Du hast so grosse Kräfte und bist doch so schwach.»
Da explodierte ich, in Sekundenschnelle war mein ganzer Körper von der Wärme erfasst und ein Strahl von Amber bildete sich, welchen ich direkt auf Meister Kontu schoss. Ich genoss die Macht, welche in mir aufschoss. Es fühlte sich so schön an zu wissen, dass niemand stärkere Kräfte hatte als ich.
Er schien aber schon erwartet zu haben dass das passierte und blockte es mit seinem eigenen Amber ab. So kämpften wir so gegeneinander, ich schwamm in einer Welle der Macht, wollte nicht damit aufhören.
«Aurora.»
«Aurora!»
Nun realisierte ich, was ich gerade am Tun war, was gerade geschah und hörte abrupt auf. Er machte es mir gleich. Ich sank auf den Boden.
«Aurora, du musst es kontrollieren können. Du darfst dich nicht von deinen Gefühlen leiten lassen. Sonst passiert so etwas wieder.»
Ich strich mir meine schweissnassen Haare aus dem Gesicht.
«Aber ich kann nicht...»
«Doch Aurora, du kannst. Du musst. Du darfst nicht auf das hören, was ich sage, du musst deine Kräfte im Zaun halten.»
Ich nickte.
«Machen wir am Nachmittag damit weiter», sagte er und zog ein kleines Messer aus seiner Tasche hervor.
«Fahren wir nun mit etwas anderem fort.»
Er schnitt sich mit dem Messer in die Handfläche. Man sah, wie das Blut langsam daraus hervorquoll.
«Wir müssen testen, wie das mit dem Heilen funktioniert, nicht?», fragte er mich.
Unsicher blickte ich auf seine Hand. Ich streckte meinen Arm aus und berührte leicht die Wunde. Meine Finger wurden von dem warmen Blut umschlossen. Ich konzentrierte mich und spürte, wie meine Hand wieder warm wurde. Ich zuckte leicht zusammen und bereitete mich auf den Schmerz vor, der nun bald eintreffen würde. Aber es wurde nicht so heiss wie letztes Mal. Es war auch nicht mehr so unangenehm und ich spürte nicht einmal, wie ich Kraft verlor. Es fühlte sich mehr so an, als würde man eine Metallplatte anfassen, welche in der Sonne gelegen hatte und nicht mehr so, als ob man bei lebendigem Leibe angezündet werden würde. Das nannte ich einen Fortschritt. Es erfasste auch nicht meinen ganzen Körper, sondern beschränkte sich auf meine Hand und meinen Unterarm.
Fasziniert beobachteten wir, wie sich die Wunde langsam schloss, wobei seine Haut leicht rötlich-golden zu leuchten begann. Also begann die Haut wirklich zu leuchten und es war nicht nur meine Einbildung gewesen. Am Ende klebte nur noch trockenes Blut auf seiner Handfläche und an meinen Fingern.
«Interessant», murmelte Meister Kontu.
«Dieses Mal hat es auch nicht so weh getan, oder?», fragte er mich und blickte mich dabei an.
Ich schüttelte den Kopf.
«Also hängt es mit der Grösse der Verletzung zusammen. Ich möchte mir nur ungern eine grosse Verletzung zulegen, aber ich glaube, solange du niemanden vom Tod zurückholst, sind die Schmerzen ertragbar und du brauchst dazu auch nicht allzu viel Kraft.
Nach einer Pause fragte er mich:
«Kannst du dich auch selbst heilen?»
«Bis jetzt habe ich mich bei Verletzungen noch nie geheilt, aber ich weiss auch erst seit wenigen Tagen, was ich kann.»
Er wischte das Messer auf seiner Hose sauber und hielt es mir hin.
«Willst du es probieren?»
Ich nahm das Messer entgegen. Meine Hand zitterte leicht, als ich das Messer zu meiner geöffneten Handfläche führte. Ich stach leicht hinein. Langsam fuhr ich mit dem Messer nach unten. Fluchend liess ich das Messer fallen, da mich der Schmerz unerwartet traf. Offenbar hatte ich zu tief hineingeschnitten. Mit einem dumpfen, leisen Aufschlag fiel es ins Gras. Mir wurde leicht schwindelig, als ich mein orange-braunes Blut sah. Ich legte meine Hände aufeinander, Handfläche auf Handfläche, schloss meine Augen und konzentrierte mich erneut. Aber ich fühlte nichts. Keine aufflammende Wärme, nichts. Langsam öffnete ich meine Augen wieder und schüttelte leicht den Kopf.
«Gut zu wissen. Gehe also nicht leichtsinnig mit deinem Leben um. Und nun, gehen wir hinein. Du brauchst einen Verband.»

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt