Aurora
«Geh weg! Ich will dich hier nicht.»
Die Worte hallten in meinem Kopf wider. Ich rannte, so schnell ich konnte, mit dem Kopf nach unten gesenkt, damit niemand mein verweintes Gesicht sehen konnte.
«Geht alle ganz schnell zurück zu eurem Haus. Was habe ich euch schon gesagt? Bleibt weg von diesem... Hexenkind.»
«Bleib gefälligst weg von unserem Dorf. Du hast hier nichts zu suchen.»
Es fühlte sich an wie dazumal. In meinem Kopf hörte ich, wie die Tür zuschlug und ich zuckte zusammen.
Aber den Schmerz, den ich jetzt verspürte, war sogar noch schlimmer. Tiefer, als ich ihn jemals zuvor verspürt hatte.
Dort war ich noch ein kleines Kind gewesen und sie hatten mich gehasst, weil mein Blut eine andere Farbe hatte wie ihr eigenes. Das war nicht meine Schuld gewesen. Aber nun... nun war es etwas Persönliches. Aren hasste mich für mich. Es hatte nichts mit meinem Äusseren zu tun, sondern mit mir. Und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich diesen Schmerz je überwinden würde können.Doch als ob das Schicksal es nicht schon schlimm genug mit mir meinte, nein, offenbar hatte es das Gefühl, dass ich heute alles Übel der Welt verdient hätte.
Ich stiess mit jemandem zusammen. Es war meine Schuld gewesen, ich hätte mich umdrehen und bei der Person entschuldigen sollen. Aber ich lief schnell weiter, fürchtete mich zu sehr, dass jemand an meiner Stimme erkannte, dass ich weinte.
«Aurora? Aurora! Warte!», erklang eine Stimme hinter mir.Wäre ich doch nur weitergegangen. Hätte ich diese Stimme doch nur ignoriert und wäre in mein Zimmer geeilt.
Noch heute, wenn ich zurück an diesen Moment denke, möchte ich mir selber zurufen, dass ich mich nicht hätte umdrehen sollen. Dann wäre vielleicht nichts davon passiert. Das einzige, was mich tröstet, ist, dass es wahrscheinlich sowieso passiert wäre. Nur später.Ich drehte mich um und sah Amelia.
«Aurora, was...» Dann sah sie mein Gesicht. Zuerst sah sie erschrocken aus, dann begriff sie. «Aren...»
Ich nickte nur und versuchte verzweifelt, meine Tränen zurückzuhalten. Ich rannte Die wenigen Schritte, welche uns trennten, überbrückte ich innerhalb kürzester Zeit ich schloss sie in eine stürmische Umarmung.
Beruhigend strich sie mir über den Rücken. Eine Zeit lang war es still und nichts als mein leises Schluchzen war zu hören.
Auf einmal löste sich Amelia aus meiner Umarmung. Sie packte mich an den Schultern und schüttelte mich leicht.
«Weisst du was? Komm jetzt zu mir. Du weisst ja, ich habe ein paar Freunde eingeladen. Glaub mir, ich werde dich diesen Idioten vergessen lassen...»
Ich sah sie zweifelnd an. Mit brüchiger Stimme, nicht lauter als ein Flüstern, fragte ich sie: «Wie? Wie sollte ich ihn vergessen?» Die letzten Worte konnte ich nicht einmal mehr laut aussprechen.
Sie sah mich mit einem wissenden Lächeln an.
«Das wirst du gleich sehen.»Der Weg zu Amelias Hütte war nicht weit, aber trotzdem konnte ich mich nur mit Mühe zusammenreissen. Wie gerne wäre ich jetzt gleich kollabiert. Einfach auf den Boden gesunken. Und nie mehr aufgestanden. Der Boden sah nicht einmal so unbequem aus, ich glaubte, mich tatsächlich mit ihm anfreunden zu können. Der Beginn einer neuen Freundschaft. Aurora und der Boden. Manchmal dachte ich wirklich, dass ich gestört war...
Das einzige, was mir halt gab, nicht auf diesen durchaus bequem aussehenden Boden zu liegen und vor mich hinzustreben, war meine Neugierde. Allein die Möglichkeit, dass ich Aren - allein bei dem Gedanken an ihn durchfuhr mich ein Schauer des Schmerzes und der Demütigung - vergessen konnte, wenn auch nur für einen Tag oder zwei, gab mir Hoffnung.Auf dem Weg war Amelia schweigsam gewesen, was ich sehr schätzte. Mein knallrotes, verweintes Gesicht sprach wohl ganz für sich.
Bei Amelias Tür angekommen, fiel mir auf, dass ich erst einmal bei ihr gewesen war. Und das, nachdem... Ich bereute es, auch nur daran gedacht zu haben und verbannte den Gedanken gleich wieder.
«Alles in Ordnung?», fragte mich Amelia.
Ich nickte und lächelte leicht. Nach meinem Versagen beim letzten Gebrauch meiner Stimme, liess ich das Sprechen vorerst lieber sein.
«Da ist das alte, schöne Lächeln, das ich vermisst habe», sagte sie. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie erkannt hatte, dass mein Lächeln das künstlichste war, welches je von irgendjemandem hervorgebracht worden war, aber trotzdem war ich ihr dankbar für ihre Versuche, mich etwas aufzuheitern. Auch wenn sie klaglos scheiterte.
Bevor ich auch nur einen Laut ausstossen konnte, öffnete sie die Tür und wir wurden von einer Welle des Lärms erfasst, welche mich einen Schritt zurücktreten liess. Von aussen hatte man nichts gehört, es schien fast, als wären die Türen und Wände schalldicht.
Jegliche Entschlusskraft und Neugierde, welche mich hierhergebracht hatte, schwand sehr schnell. Doch Amelia zog mich hinein und schloss die Tür hinter sich. Ich blickte mich um. Die Hütte war nicht gross, aber dafür passten bemerkenswert viele Leute hinein, es sah fast so aus, als ob sich das halbe Lager hier versammelt hätte. Wortwörtlich. So roch es auch. Viele Leute hielten einen Becher in der Hand, aber ich konnte nicht identifizieren, um was es sich handelte.
«Ein paar Freunde? Ein paar? Amelia, ich glaube nicht, dass ich das jetzt vertrage», sagte ich mit immer noch brüchiger Stimme, welche in der Flut des Lärmes beinahe unterging.
«Warte hier, ich komme gleich», schrie sie mir zu.
Also stand ich in der Menschenmenge, verloren, verwundert und immer noch voller Schmerzen.

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Amber - Das Erwachen
FantasyNach dem Überfall auf ihr Haus wird Aurora ins Lager der Amalintas - der Beschützer der Welt - gebracht. Es stellt sich heraus, dass Auroras Blut, genau wie das Blut der Amalintas, die Farbe von Bernstein hat, was ihnen übernatürliche Kräfte verleih...