Kapitel 23

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Aurora

Den Weg dorthin verbrachte ich, indem ich nervös an mein bevorstehendes Gespräch dachte. Meine Arme waren fest vor der Brust verschränkt, da ich, als ich gestern zu Aren gegangen war, nicht daran gedacht hatte, eine Jacke mitzunehmen und vorher nicht nochmals zu meiner eigenen Hütte gegangen war.
Von überall hörte ich leises Geflüster, alle starrten mich an und machten einen grossen Bogen um mich.
Zu sehen, dass sie sich beinahe vor mir fürchteten, war unerträglich. Sie fürchteten sich vor dem, was ich getan hatte.
Hexenkind. Hexenkind. Hexenkind.
Ich beschleunigte meine Schritte und fühlte fast Erleichterung in mir aufsteigen, als ich endlich vor Meister Kontus Tür stand und klopfte.
Nun würde ich aus diesem Lager weggehen müssen.

Drinnen war es etwas stickig und wie beim letzten Mal, als ich hier gewesen war, standen überall stapelweise Bücher. Schweigend liefen wir in das Zimmer, in dem wir auch schon letztes Mal gesessen hatten. Ich setzte mich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Als auch er sich gesetzt hatte, musste ich unbedingt etwas loswerden.
«Es tut mir leid, dass ich letztes Mal einfach so herausgestürmt bin, ich...»
«Schon gut», sagte er und lächelte verständnisvoll.
«Ich kann mir vorstellen, dass das alles etwas viel für dich gewesen war.»
Seine Stimme war langsam und klar, und sofort beruhigte ich mich. Ich nickte leicht.
«Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, warum ich mit dir sprechen will», sagte er.
Meine Hände klammerten sich in die Armlehnen.
«Ja.»
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Tut mir leid, dass ich einen Jungen getötet habe? Also übernahm er das Sprechen.
«Deine Familie ist, wie ich dir schon gesagt habe, eine sehr starke Familie. Grosse und mächtige Leute sind daraus entsprungen, verewigt in unzähligen Büchern. Und du scheinst besonders mächtig zu sein. Anders kann ich mir nicht erklären, wie du es geschafft hast, einen anderen Amalinta zu töten. So viel Energie, das habe ich noch nie gesehen. Doch das hat nichts mit deiner anderen Gabe zu tun», sagte er.
«Das heilen», flüsterte ich.
«Ja, wie du weisst, ist das Amber etwas erbbares. Was es normalerweise machen kann, weisst du. Aber in Geschichten aus alten Zeiten ist gestanden, dass es Menschen gegeben haben soll, welche mehr damit machen konnten als die Anderen. In den Büchern wird etwa alle 200 Jahre solch etwas beschrieben. Manchmal auch über 1000 Jahre nicht, und dann plötzlich zwei in einer Generation. Ich habe nie wirklich daran geglaubt. Es ist schon so lange nicht mehr darüber berichtet worden, und ich dachte immer, es wäre eine Legende.»
«Konnten diese Menschen auch andere heilen, so wie ich?», fragte ich ihn.
«Es ist unklar, was sie konnten. Meistens stand etwas von übernatürlich. Wenn ich mich nicht irre, ist schon einmal von einem fliegenden Geschöpf die Rede gewesen. Über das Heilen habe ich noch nie gelesen.»
«Aber wenn es nicht erbbar ist, was dann?», fragte ich.
Ich wusste nicht, wie das Gespräch verlaufen würde, aber das hatte ich ganz bestimmt nicht erwartet.
«Das ist unklar. Manche sagen, die Götter selbst geben manchen Auserwählten diese Begabungen. Andere sagen, es ist Zufall. Was glaubst du, Aurora, was es ist?»
Ich dachte nach. Ich kannte die alten Göttermythen, aber ich hatte nie wirklich daran geglaubt. Ich habe mir nie überlegt, woher wir kamen, oder wohin wir nach dem Tod gehen würden. Aber als ich nun meine Mutter gesehen hatte, fragte ich mich, ob die Sagen vielleicht wirklich stimmten. Vielleicht hatte ich das alles nur geträumt mit meiner Mutter, aber ich glaubte nicht daran. Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit meiner Mutter. Wie sie gesagt hatte, ich sollte niemanden mehr vom Tod zurückholen, denn wenn ich es einmal anfing, gäbe es kein Zurück mehr.
Seine Frage beantwortete ich nicht.
Nachdenklich nickte er. «Ja, das macht Sinn», murmelte er.
«Warum war es so schmerzhaft zu heilen?», fragte ich ihn.
«Nun ja, ich kann nur mutmassen. Aber um jemanden zu heilen, benötigt man viel Kraft. Diese Kraft kann nicht aus dem Nirgendwo kommen. Sie kommt von dir. Deswegen kann es für dich wahrscheinlich auch tödlich ausgehen. Wenn du zu viel Kraft verlierst.»
Er richtete sich gerader auf.
«In den nächsten Tagen werden wir deine Kraft genauer austesten.»
Ich weitete meine Augen und war völlig irritiert und verwundert.
«Ich bleibe hier?», rief ich erstaunt.
«Ich werde also nicht rausgeschmissen?»
«Rausgeschmissen? Wie meinst du das?»
«Ich... ich habe jemanden getötet. Sie haben doch gar keine andere Wahl.»
«Ja, du hast jemanden umgebracht und das ist eine schreckliche Tat, aber es war nicht nur deine Schuld. Ich hätte wissen müssen, dass grosse Kräfte in dir schlummern und ich hätte darauf achtgeben müssen, dass man dich besser trainiert. Es war wahrscheinlich Wut, welche dich zu dieser Tat getrieben hat?», fragte er.
Ich nickte und blickte auf meine Füsse.
«Du musst lernen, deine Emotionen zu kontrollieren. Sie können dir grosse Macht verleihen, aber lasse dich niemals von Wut oder Angst leiten. Und du hast besondere Kräfte. Du musst wissen, wie genau sie funktionieren. Deswegen werde ich ab sofort dein Training übernehmen.»
Immer noch verwirrt blickte ich ihn an. Träumte ich gerade?
«Aber ich habe jemanden umgebracht. Grundlos. Ich kann mich doch nicht mehr in diesem Lager blicken lassen. Alle hassen und fürchten mich.»
Genauso wie damals.
Nach einer kurzen Pause sagte ich:
«Ich selbst hasse und fürchte mich.»
«Und genau aus diesem Grund», sagte er, «habe ich ihn herholen lassen.»
Ich blickte zur Tür. Sie öffnete sich leise.
Und zum Vorschein kam der Junge. Der Junge, den ich getötet hatte.

Blitzschnell stand ich auf. Doch dann besann ich mich eines Besseren und setzte mich langsam wieder. Ich wusste nicht, wohin ich blicken sollte. Auf die Decke, das Fenster, den Stapel Bücher, die Decke, den Boden... Ich musste aussehen wie eine Verrückte. Vielleicht war ich das auch.
«Ah, du bist also das Mädchen, das mich umgebracht hat», sagte der Junge.
Ich blickte ihn an. Er lächelte. Aber es war kein künstliches, oder giftiges Lächeln. Es war ein aufgewecktes, leicht schelmisches Grinsen. Das irritierte mich. Unsicher sah ich ihn an.
Mir fiel auf, dass er ausser der Haarfarbe keinerlei Ähnlichkeiten zu Aren hatte. Seine Gesichtszüge, die Augenfarbe... alles war anders. Wie sehr musste ich aufgebracht gewesen sein, um sie miteinander zu verwechseln?
«Keine Angst, es stört mich nicht, dass du mich umgebracht hast. Jeder dreht mal durch. Und immerhin hast du mich auch wieder zum Leben erweckt. Es können nicht viele Leute von sich behaupten, dass sie das Totenreich schon einmal berührt haben und quicklebendig vor einem stehen. Ich finde es irgendwie cool. Weisst du was? Ja, ich bedanke mich bei dir.»
Ich schaute verwirrt zu Meister Kontu. Er lächelte mich an.
«Darf ich dir vorstellen? Das ist Benjamin. Und Benjamin, das ist Aurora.»
«Es tut mir wirklich leid. Ich habe das alles nicht gewollt», fing ich an.
Ich war so durcheinander von dem, was er gesagt hatte, dass ich beschlossen hatte, nochmals von vorne anzufangen. Doch er ignorierte das gerade Gesagte und fragte mich:
«Hast du schon einmal jemanden geheilt?»
«Nein», sagte ich und versuchte mich auf diese Konversation einzustellen.
«Vorher wusste ich nicht, dass ich das konnte.»
«Aber stell dir vor, du könntest Leute erwecken, welche schon vor tausenden von Jahren gestorben sind. Was denkst du, wie sie darauf reagieren würden?»
Ich sah ihn verwirrt an.
«Was...»
«Benjamin», sagte Meister Kontu ermahnend, aber mit einem leichten Lächeln.
«Ich glaube, du hast genug Fragen gestellt.»
«Ist gut. Ich geh dann mal», sagte er und erhob sich.
«Also... ist alles gut zwischen uns?», fragte ich ihn, nur um sicher zu sein, dass ich dieses Gespräch gerade richtig verstanden hatte.
«Ja, alles bestens», sagte er mit einem Lächeln.
Dann war er auch schon weg. Pure Erleichterung durchströmte mich.
«Warum..., warum hat er mir so schnell verziehen? Ich meine, ich habe ihn umgebracht. Er war tot. Warum verzeiht er mir? Warum verzeiht Ihr mir?»
«Jeder macht einmal Fehler. Nur so lernt man dazu. Und weisst du, was das Schwierigste ist? Man muss sich selbst verzeihen.»
«Aber wie? Wie kann ich mir jemals verzeihen?»
«Es braucht Zeit und Geduld, aber eines Morgens wirst du aufwachen und mit dem, was du getan hast, leben können.»
Ich nickte. Aber ich glaubte ihm nicht. Ich glaubte ihm nicht, dass ich jemals damit würde leben können. Doch ich schwieg.

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt