Aurora
Zwei Wochen waren seit diesem Vorfall vergangen. Ich hatte ihn schon fast vergessen. Fast.
Das gleichmässige Galoppieren war unglaublich beruhigend. Ich hielt mich an ihrer weissen Mähne fest und drückte meinen Kopf nahe an ihren Hals. Ich schloss meine Augen. Das war Freiheit.
Und dann, auf einmal, war es da. Das Bild. Ein bewegendes Bild. Es war nun schärfer und ich erkannte, dass es sich um eine riesige Ansammlung von Menschen handeln musste. Nein, keine Menschen. Wesen. Sie waren zwar alle sehr weit entfernt, aber trotzdem war klar zu erkennen, dass sie nicht menschlich waren. Einige davon hatte ich schon in den Büchern gesehen, aber es gab viele, die ich noch nie gesehen hatte. Sie hatten alle die unterschiedlichsten Farben und Formen, einige besassen sogar Flügel. Sie liefen alle in einer Reihe in eine Richtung. Viele von ihnen schienen eine Art Rüstung zu tragen. War es eine Armee? Dann hörte ich eine Stimme. Sie schien von irgendwo ganz vorne zu kommen.
«Wir kommen. Ich komme. Bald. Sehr bald.»Aren
«Vorwärts! Schneller!», rief eine Stimme
Sie war weit entfernt, doch trotzdem war sie klar und deutlich zu hören. Die Erde zitterte leicht. Es mussten hunderte Wesen sein, oder sogar tausende. Ich blickte hoch. Die Sonne blendete mich. Ich rannte in die Richtung, in die die Wesen liefen, um an den Anfang des Zuges zu gelangen. Es dauerte lange, sehr lange. Als ich am Anfang ankam, hielt ich erstarrt inne. Da war ein Mensch. Er sass auf einem grossen, gefährlich aussehenden Wesen. Sein Haar und seine Augen waren dunkel. Er war gross - grösser als ich - und sein Blick war kalt. Auf einmal drehte er seinen Kopf in meine Richtung. Er fixierte mich. Konnte er mich etwa sehen? Ich blieb mucksmäuschenstill stehen und atmete, so flach ich konnte. Dann drehte er seinen Kopf wieder weg. Ich erwachte.Aurora
Ich öffnete meine Augen und richtete mich panisch auf. Ich sah, wie auch Aren hellwach neben mir sass.
«Bist du schon lange wach?», fragte ich ihn.
«Nein, ich bin nur wenige Sekunden vor dir aufgewacht.»
«Ich hatte so einen komischen Traum», begann ich zu erzählen.
«Es sah aus wie eine Armee aus Wesen der anderen Welt. Und sie liefen alle in eine Richtung.»
Er blickte mich fassungslos an.
«Ich hatte denselben Traum.»
Erstaunt sah ich ihn an.
«Du hast auch diese Stimme gehört? Die Stimme, die sagte:» Ich versuchte, die Stimme nachzuahmen: «Wir kommen. Ich komme. Bald. Sehr bald.»
Er schüttelte den Kopf.
«Nein. Das nicht. Aber bei mir gab es auch eine Armee aus Wesen. Ich bin zum Anfang geeilt...»
«Du konntest dich bewegen? Bei mir war es mehr wie ein Bild, das ich von aussen her betrachtete», sagte ich.
«Nein, ich war in der Szene drin. Wie bei all meinen Träumen dieser Art. Jedenfalls war ganz vorne ein Mensch. Und ich habe auch eine Stimme gehört, aber sie schien aus der Armee zu kommen. Deine scheint zu dir gesprochen zu haben.»
Ich nickte.
«Es war derselbe Traum und doch ein anderer.»
«Wie aus einer anderen Perspektive.»Nach diesem Vorfall gingen wir zu Meister Kontu. Nachdem wir ihm von unseren Träumen erzählt hatten, entstand eine lange Pause. Meister Kontu machte ein ernstes Gesicht, ernster als sonst. Unruhig blickten Aren und ich uns an.
«Es scheint aus der Gegenwart zu kommen», sagte er schliesslich.
«Bei dir, Aren», sagte er und blickte ihn dabei an, «handelt es sich wahrscheinlich einfach um einen deiner Träume, aber bei dir Aurora», bei der Erwähnung meines Namens schaute er mich an «ist es etwas anderes. Du hast Arens Gabe nicht, und trotzdem hattet ihr denselben Traum. Es scheint, als ob jemand Kontakt zu dir aufgenommen hat.»
«Kontakt aufgenommen?», fragte ich verwirrt.
«Wie...Was...Was meinen Sie damit?»
«Starke Amalintas desselben Blutes können manchmal miteinander kommunizieren. Meistens ist es aber nur eine leise Stimme. Ich weiss nicht, wie dieser es geschafft hat, ein Bild zu erzeugen.»
«Also war dieser Mensch, den ich gesehen habe, ein Amalinta gewesen?», fragte Aren.
«Ja, ich gehe davon aus. Du hast gesagt, dass er dich kurz angeblickt hatte. Ich weiss nicht, wie das möglich ist, aber ein gewöhnlicher Mensch hätte das bestimmt nicht geschafft.»
«Aber...ich habe doch gar keine Familie mehr», sagte ich.
«Es gibt niemanden, der mich kontaktieren könnte.»
Darauf erwiderte er nichts.
«Und überhaupt. Was bedeutet das alles? Wir kommen. Wer kommt? Was kommt?»
«In dieser Hinsicht weiss ich genauso wenig wie ihr. Aber erzählt den anderen nichts davon. Ich will nicht unnötig Panik verbreiten. Und kommt zu mir, wenn so etwas nochmals geschieht.»Aber es geschah nicht erneut. Obwohl wir uns (vor allem Aren mich) gegenseitig davon zu überzeugen versuchten, dass nichts weiter dahintersteckte, fühlte ich mich dennoch sehr beunruhigt. Und auch wenn Aren so tat, als ob er es schon längst vergessen hätte, sah ich doch manchmal, wenn er dachte, dass ich wegschaute, seinen besorgten Blick. Die entspannte, glückliche Stimmung war auf einen Schlag verflogen. Es war nicht mehr Sommer.
Der Herbst war nun vollständig eingetroffen und einmal mehr erkannte ich, was er bedeutete. Er kündete Kälte an. Aber es fühlte sich nicht an wie sonst. Etwas Lauerndes lag im Wetter. Arens Albträume nahmen zu. Auch wenn wir keinen ähnlichen Traum mehr zur gleichen Zeit miteinander teilten, hatte ich doch das Gefühl, dass er weiterhin davon träumte. Er stritt es aber ab, sagte, dass er nie mehr etwas von der Armee geträumt hatte. Ich glaubte ihm nicht. Meiner Vermutung nach sagte er es mir nur nicht, weil er mich nicht noch mehr in Aufruhr versetzen wollte. Ich konnte ihm da nicht wirklich Unrecht geben. Auch die anderen schienen zu spüren, dass etwas in der Luft lag - sogar Amelia -, aber ich versuchte, so unbesorgt wie möglich zu tun.
Als ich die Augen öffnete, hatte ich das Gefühl, sie erst gerade geschlossen gehabt zu haben. Wahrscheinlich stimmte das sogar. In letzter Zeit dauerte es immer Ewigkeiten, bis ich einschlafen konnte. Das wiederum hatte grosse Auswirkungen auf meine Laune, ich war oft gereizt und mürrisch. Aber als Aren neben mir den Arm um mich legte und mich nahe an sich drückte, verflogen für einen Moment alle meine Sorgen und Launen. Ich fühlte mich wie das glücklichste Mädchen der Welt - beider Welten. Er schaffte es immer, auch, wenn ich meine Tiefpunkte erreichte, mich daraus herauszuziehen.
«Ich muss mir wirklich keine Sorgen machen, nicht wahr? Ich habe die letzten Wochen überreagiert», flüsterte ich leise.
«Vielleicht ein bisschen», murmelte er und küsste mich auf die Schulter.
«Aber du musst dir wirklich keine Sorgen machen.»
Ich nickte. Vielleicht hatte ich mir einfach zu viele Gedanken darüber gemacht. Wir hatten per Zufall das gleiche geträumt. Das konnte passieren. Der Teil in meinem Innern, der mir immer sagen wollte, dass ich aufpassen sollte, dass mehr dahintersteckte, vielleicht war das einfach mein paranoider Teil. Ich zwang mich, das Geschehene zu vergessen und wieder zu der Unbeschwertheit des Sommers zurückzukehren. Und es klappte.Der Schnee kam ganz plötzlich, als wir eines Tages zum Frühstück gingen. Es waren nur kleine, feine Flöckchen. Es war wunderbar. Auch wenn ich den Winter nicht mochte, der erste Schnee war etwas Besonderes. Am Boden schmolz er gleich, da die Erde noch zu warm war. Aber sie verfingen sich in Arens Haaren. Sein schwarzes, volles Haar war ein schöner Kontrast zu den weissen Schneeflocken.
«Was ist?», fragte er mich. Wahrscheinlich hatte ich ihn zu lange angestarrt.
«Nichts, nichts», sagte ich schnell.
Ich blickte zum Himmel empor. Tief atmete ich die deutlich kühlergewordene Luft ein. Anschliessend hakte ich mich bei ihm unter und lehnte gegen ihn. Ich hatte das Gefühl, dass nun jeder wusste, dass etwas zwischen uns war. Warum überhaupt noch verheimlichen? Wir setzten uns an einen freien Tisch, die anderen waren noch nicht eingetroffen. Die dünne Schneeschicht auf Arens und wahrscheinlich auch meinen Haaren schmolz langsam, da wir eine dünne, aber effektive Plane über unseren Köpfen hatten, welche verhinderte, dass frischer Schnee auf uns herabfiel.Zurück in Arens Zimmer nahm er plötzlich etwas aus seiner Nachttisch Schublade hervor. Es war ein kleines Schächtelchen. Interessiert beugte ich mich vom Bett herab, um zu sehen, was sich darin befand.
«Ich wollte es dir schon lange geben», sagte er.
«Aber ich glaube, jetzt ist der perfekte Zeitpunkt.»
Er öffnete die Schachtel und zum Vorschein kam eine dünne Kette. Der Anhänger war ganz klein, aber ich erkannte, dass es eine Schneeflocke war.
«Er hat meiner Mutter gehört. Es ist das einzige, was ich noch von ihr habe», sagte er.
«Und nun gehört er dir.»
Er erhob sich und legte mir die Kette in die Hand.
«Natürlich nur, wenn du sie haben willst», sagte er schnell.
«Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe», flüsterte ich und berührte mit der Fingerspitze den Anhänger.
«Bist du dir sicher, dass du ihn mir geben willst?», fragte ich ihn.
«Es ist das einzige, was du noch von deiner Mutter hast.»
Er verschränkte seine Hand in meine.
«Ich möchte, dass du es hast», flüsterte er.
Ich löste seine Hand von meiner und versuchte, mir die Kette umzulegen. Aber ich schaffte es nicht, den Verschluss zu schliessen.«Lass mich das machen», sagte er, trat hinter mich und nahm mir die Kette ab. Er strich meine Haare über die eine Schulter und schloss den Verschluss. Er legte seine Hände um meine Taille und gab mir einen Kuss auf meine freie Schulter. Ich spürte, wie sich auf meinen Armen Gänsehaut ausbreitete.
«Danke. Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe».
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Amber - Das Erwachen
FantasyNach dem Überfall auf ihr Haus wird Aurora ins Lager der Amalintas - der Beschützer der Welt - gebracht. Es stellt sich heraus, dass Auroras Blut, genau wie das Blut der Amalintas, die Farbe von Bernstein hat, was ihnen übernatürliche Kräfte verleih...