Kapitel 10

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Aurora

Nachdem wir fertig gegessen hatten, ging ich zu meiner Hütte zurück und suchte mir im Schrank etwas Passendes zum Anziehen. Nachdem ich mich nach einer gefühlten Stunde für eine eng anliegende Stoffhose und ein lockeres Oberteil entschieden hatte, zog ich mich um und wartete darauf, dass Amelia endlich kam. Irgendwie freute ich mich auf dieses Training, auch wenn ich mir noch nicht so genau vorstellen konnte, was wir dort machten. Aber ich hoffte, dass es mich von meinen derzeitig anderen Gedanken ablenken konnte.
Als es an der Tür klopfte, sprang ich sofort auf und öffnete sie.
«Bereit zum losgehen?», fragte mich Amelia. Ich nickte und stellte erleichtert fest, dass sie etwas Ähnliches trug wie ich.
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg.
Auf der grossen Wiese befanden sich schon viele Menschen, alle auf den Trainingsbeginn wartend. Wir gesellten uns zu ihnen und warteten. Kurz darauf erschienen acht erwachsene und gut gebaute Männer und Frauen und wir bildeten einen Halbkreis um sie. Sie waren wahrscheinlich die Trainer. Der eine stand etwas weiter vorne und begann zu sprechen:
«Das Training verläuft wie immer. Zuerst rennt ihr die Runden und danach teilen wir euch in Gruppen auf. Heute sind Zweierkämpfe angesagt.»
Allgemeiner Jubel machte sich breit. Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum.
Zweierkämpfe? Was hatte das zu bedeuten?
Und dann ging es auch schon los.

Amelia und ich starteten weiter hinten, doch ich war ziemlich gut in Ausdauer und beschleunigte so mein Tempo.
Auch früher war ich immer gerne gerannt. Vor allem im Sommer rannte ich häufig weite Strecken. So konnte ich mich entspannen und für einige Zeit meine Probleme hinter mir lassen.
Ehe ich mich versah, hatte ich Amelia aus den Augen verloren. Aber in der grossen Menschenmasse hatte ich keine Chance, sie wiederzufinden. Also rannte ich weiter, konzentrierte mich nur auf meinen Atem. Innerhalb kürzester Zeit befand mich recht weit vorne.
Als wir fertig waren, war ich leicht verschwitzt und meine Lunge schmerzte etwas, aber ansonsten war ich noch in guter Verfassung.
Mit ungefähr zwanzig anderen wurde ich einem Mann zugeteilt. Er war sehr muskulös und grob und wie ich fand sehr einschüchternd.
Amelia war leider nicht in meiner Gruppe, aber beim Mittagessen würde ich sie bestimmt wiederfinden. Die anderen Personen in der Gruppe hatten sich in Zweier- und Dreiergruppen zusammengefunden und flüsterten leise und lachten hin und wieder laut auf. Ich lief etwas abseits von ihnen. Mein ganzes Leben hatte ich mich nicht unter Menschen befunden und dementsprechend wusste ich nicht wirklich, wie ich mich verhalten sollte. War ich dazu verpflichtet, zu ihnen zu gehen und mich vorzustellen? Wäre das eigentlich ihre Aufgabe? Ich zuckte mit der Schulter. Immerhin hatte ich Amelia. Ich war sehr dankbar, dass sie auf mich zugekommen war und unsere Konversationen aufrechterhielt, denn ich wusste nicht ganz, wie ich das machen sollte.

Bei einem der grossen Bäume, welche überall im Lager zu finden waren, blieben wir stehen. Der Trainer wandte er sich nun uns zu und erklärte:
«Heute geht es wie schon gesagt um Zweierkämpfe, also geht zu zweit und übt schon mal. Aurora, kommst du noch schnell zu mir?» Dabei blickte er mich an. Die anderen Leute blickten mich neugierig an und schüchtern trat ich auf ihn zu.
Die Anderen begannen miteinander zu kämpfen, relativ gewaltsam, wie ich fand. Jedes Mal, wenn jemand geschlagen wurde und zu Boden fiel, zuckte ich leicht zusammen.

Der Trainer räusperte sich, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen und begann dann zu sprechen.
«Also, es ist ganz einfach. Man darf keine Hilfsmittel verwenden, aber ansonsten ist alles erlaubt. Wer länger als fünf Sekunden auf dem Rücken liegt, hat verloren.»
«Also darf man auch seine Kräfte brauchen?», fragte ich ihn schüchtern.
«Natürlich», antwortete er mir, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. Ich musste ihn danach ziemlich schräg und geschockt angeschaut haben, denn er lachte und sagte:
«Den anderen Amalintas kann das Amber keinen schwerwiegenden Schaden hinterlassen. Man spürt zwar einen kleinen, nicht ganz schmerzlosen Druck, aber das ist auch schon alles. Du kannst jetzt wieder zur Gruppe gehen und mit deinem Partner üben.»
«Aber.... ich habe noch keinerlei Erfahrung», sagte ich stockend.
«Du schaffst das schon. Ich habe dich vorher rennen gesehen. Du bist sehr gut. Versuch es mal», versuchte er mich zu ermutigen.
Ich fragte mich, was bitte sehr Rennen mit Kämpfen zu tun hatte. Aber ich sprach es nicht laut aus.
«Und ausserdem», fing er an, «bist du die Tochter von Darmian, deine Kräfte gehören wahrscheinlich zu den stärksten überhaupt.» Bei der Erwähnung des Namens zuckte ich leicht zusammen.
«Siehst du den grossen Jungen dort? Er ist dein Partner für heute.» Ich wandte mich um und blickte ihn an. Er hatte noch einige Adjektive für die Beschreibung des Jungen ausgelassen. Gross, Muskeln zum Zerplatzen, ein böses Grinsen im Gesicht, als ob er sich schon sehr freute, mir alle Knochen zu brechen...
Langsam und zögernd lief ich auf ihn zu.

Als ich vor ihm stand, sagte er: «Du bist also die Neue...» und sah mich dabei abschätzig von oben bis unten an.
Ich war selber erstaunt über mein Verhalten, aber anstatt mich von ihm einschüchtern zu lassen, wurde ich eher wütend.
«Ja, ich bin die Neue», sagte ich, so selbstbewusst ich konnte. Er war sichtlich überrascht, dass ich nicht vor Angst zusammengebrochen war und sagte:
«Dann lass uns anfangen. Wir stellen uns einfach gegenüber voneinander auf, und man kann anfangen, wann man will.»
Als wir uns gegenüber voneinander befanden, schaute ich ihm in seine Augen, unsicher, was ich jetzt machen sollte. Er jedoch trat einfach auf mich zu und schlug mir mit seiner Faust direkt in die Magengrube. Ich krümmte mich und ein stechender Schmerz verbreitete sich. Nun war ich jedoch umso wütender, er hätte mich irgendwie warnen können, immerhin hatte ich das noch nie gemacht! Ich richtete mich auf und starrte ihn an. Er lächelte nur selbstgefällig und setzte schon zu einem nächsten Schlag an. Dieses Mal war ich aber vorbereitet und wich geschickt aus. Er war sichtlich überrascht, fasste sich aber schnell wieder. Erneut setzte er zu einem Schlag an. Ich hingegen war flinker, bückte mich unter seinen Armen hindurch, welche er zum Schlag angehoben hatte, und trat ihm mit dem Fuss in den Rücken. Er fiel auf den Boden, war aber sofort wieder auf den Füssen und sah mich zornig an.
«Wie kannst du es wagen...» Er streckte seine Hände aus und ich sah, wie sich etwas Bernsteinfarbenes bildete. Ich konnte gerade noch zur Seite springen, als der Lichtstrahl auf mich zugeschossen kam. Jedoch war ich aber nicht genug schnell gewesen und so streifte mich der Strahl. Es sollte sich anfühlen wie ein kleiner, nicht ganz schmerzloser Druck. Haha. Sehr witzig. Es fühlte sich vielmehr an, als ob gerade ein Ragonok über mich getrampelt war. Ich lag schwer atmend am Boden. Doch ich hatte noch nicht aufgegeben. Ich richtete mich auf. Was er konnte, konnte ich auch. Ich versuchte, das Amber in mir aufsteigen zu lassen, aber wieder kam anfangs nichts. Ich spürte einen Anflug von Verzweiflung, viel Zeit hatte ich nicht, bevor er wieder Zuschlagen würde.

«Komm schon, komm schon», murmelte ich leise. Und dann fühlte ich endlich, wie das Amber in mir aufstieg. Die Wärme, die sich in meinem Körper verteilte. Kurz darauf feuerte ich mein Geschoss ab und er wurde voll getroffen, nicht nur gestreift. Er blieb einen Moment liegen. Das war meine Chance. Ich stürzte mich auf ihn und hielt seine Hände mit aller Kraft fest und auch seine Beine konnte ich in Schach halten. Plötzlich hörte ich Stimmen.

«Eins, zwei, drei, vier, fünf!» Die Menge fing an zu jubeln. Erst jetzt sah ich, dass sich viele um uns gesammelt hatten, um uns zuzuschauen. Nicht nur von unserer Gruppe, sondern auch von den anderen.
Mir war das sehr unangenehm und ich konnte förmlich spüren, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Von solch einer grossen Menge umrundet zu sein, alle auf mich starrend, liess mich unglaublich unwohl fühlen. Fast rechnete ich schon damit, dass jemand Hexenkind rufen würde.
Ich liess seine Hände los und erhob mich. Der Junge, den ich gerade besiegt hatte, erhob sich auch und verschwand schnell, wahrscheinlich, um sich nicht mehr länger der Schande des Verlierens vor einem so grossen Publikum aussetzen zu müssen.
Auch ich war im Begriff, einfach wegzulaufen, als alle plötzlich verstummten. Ich sah, wie sich die Menge teilte und jemand heraustrat. Es war der Junge mit den schwarzen Haaren und den leuchtend grünen Augen. Er kam auf mich zu, stand über mir und fragte mich:
«Bereit für einen zweiten Kampf?»

Amber - Das ErwachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt