Aurora
Der Schock musste mir ins Gesicht geschrieben sein. Ich versuchte, etwas zu erwidern, aber es kam nur ein Krächzen heraus. Er schaute mich einige Momente musternd an.
«Du weisst doch, dass du einen Bruder hast, nicht wahr?», fragte er mich.
Ich brauchte einige Anläufe, um meine Stimme wiederzufinden.
«Mei...mein Bruder ist tot», sagte ich mit brüchiger Stimme.
Er sah mich abschätzig an, aber in seinem Blick lag, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, etwas verletztes.
«Du weisst gar nicht, was unsere Eltern, oder besser gesagt unsere Mutter, mir angetan hatten.»
Er schnaubte verächtlich.
«War ja klar, dass sie es niemandem gesagt hat, besonders dir nicht.»
Er setzte sich neben mich auf den Boden.
«Lass mich dir die Kurzfassung davon geben, was für grauenhafte Eltern wir haben. Wo fing alles an?», fragte er sich selber.
«Ah ja, genau. Bei der Blutschlacht, als unser Vater, der Held, das Tor geschlossen hatte. Ich war dort erst sechs Jahre alt gewesen, aber dieser Tag, jede einzelne Sekunde davon, hat sich in mein Hirn gebrannt. An dem Tor selbst hatte es erstaunlich wenige, eigentlich gar keine Kämpfe, gegeben. Deswegen hatte unser Vater auch das Tor schliessen können, ohne einfach getötet zu werden. Jedenfalls war mein Vater schon daran gewesen, das Tor zu schliessen, als unsere liebe Mutter mich, ein sechsjähriger Junge, einfach gewaltsam auf die andere Seite geschmissen hat. Dadurch, dass unser Vater mit seinem Amber versuchte, das Tor zu schliessen, wurde ich wortwörtlich in sein Amber geworfen und dadurch fiel ich noch viel weiter auf die andere Seite. Mein Vater hatte jedoch nicht mit der Prozedur aufgehört, um mich zurückzuholen, sondern er hat einfach weitergemacht. Mich nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Dieser Feigling.»
Die letzten Worte spuckte er nur noch aus.All diese Informationen, die da gerade auf mich einschlugen, hauten mich förmlich um und ich musste mich erst einmal erholen. Dabei krallten sich meine Fingernägel in die Baumrinde hinter mir und hinderten mich so daran, einfach umzukippen.
Zuerst dachte ich: Er log. Er erfand das Ganze jetzt einfach. Aber gleichzeitig sah er mir so ähnlich, er musste mein Bruder sein. Ich dachte darüber nach, was meine Mutter in ihren letzten Atemzügen zu mir gesagt hatte:
Was auch immer du über unsere Familie herausfinden wirst, denk daran, dass ich dich immer geliebt habe und nur das Beste für dich wollte.
Ich hatte nie gewusst, was sie damit gemeint hatte. Aber war es vielleicht das gewesen? Dass sie meinen Bruder einfach verbannt hatte? Ich wollte es nicht glauben, nichts davon.
Aber ich wusste, dass er die Wahrheit sagte.
«Warum?», flüsterte ich nur leise.
«Ach, auch das weisst du nicht? Was hast du in diesem Lager überhaupt gelernt?»
Ich schwieg. Seine Stimme, welche anfangs rau und kalt gewesen war, wurde nun sanfter.
«Schon in den alten Schriften war darüber geschrieben worden. Es ist so: Weil ein Magier der anderen Welt das Tor geöffnet war, kann es nur durch einen Menschen wieder geschlossen werden. Mit einem Menschen, der Amber in sich hat, versteht sich. Aber er muss sehr mächtig dafür sein. Und es kostet ihn sein Leben. Das war das Leben unseres Vaters. Um das Tor jemals wieder öffnen zu können, muss in beiden Welten ein Mitglied desselben Blutes, also aus seiner Familie sein und nur diese sind dazu befugt, das Tor wieder zu öffnen. Also haben sie, in der naiven Hoffnung wahrscheinlich, dass jemals wieder Frieden zwischen den Welten herrschen kann, mich auf die andere Seite geworfen.»
Einen Moment war es still, ich wusste nicht, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Also versuchte ich, möglichst allgemeine Fragen zu stellen, um so meine komplette Verwirrtheit zu verbergen.
«Warum bist du nicht gestorben, als du es geöffnet hast? Und was machst du jetzt hier?», fragte ich ihn.
Meine Stimme wurde fast vollständig vom Wind fortgetragen.
«Das Öffnen des Tores ist nicht ganz so kräftezehrend wie das Schliessen und ich bin sowieso viel stärker als unser Vater. Und zu deiner anderen Frage: Ich bin hier, um endlich meine Schwester kennenzulernen. Und natürlich, um die Menschen zu unterwerfen.»
Das Letzte sagte er ganz ruhig und normal, als ob dieser Fakt schon allgemein bekannt wäre.
Ich starrte ihn an.
«Du willst was...?»
«Ja, du hast schon richtig gehört: Die Menschen unterwerfen. Sie haben mich aus dieser Welt geworfen. Und nun werden sie dafür bezahlen.»
Ich wich zurück.
«Aurora, verstehe meine Seite. Ich war sechs Jahre alt gewesen. Unsere Mutter hatte mich verbannt, mit sechs Jahren. Die Menschen sind grauenhaft. Sie werden dafür büssen.»
Erstaunt musste ich feststellen, dass ich ihn wirklich verstand. Was die Menschen ihm angetan hatten, war unverzeihlich gewesen.
Und ich, als König von Merandus, werde dabei sein. Ich werde die Menschen unterwerfen und leiden lassen.
«Du bist ihr König? Warum?», fragte ich.
Langsam hatte ich meine Stimme wiedergefunden.
«Die Wesen der anderen Welt erkannten, wer ich war. Sie wussten, dass ich ihnen ihre Rache bescheren konnte. Aber das ist nicht der Hauptgrund.»
Nun wurde sein Blick wieder kalt und starr.
«Der Grund ist, dass niemand die Menschen mehr hasst als ich.»
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Amber - Das Erwachen
FantasyNach dem Überfall auf ihr Haus wird Aurora ins Lager der Amalintas - der Beschützer der Welt - gebracht. Es stellt sich heraus, dass Auroras Blut, genau wie das Blut der Amalintas, die Farbe von Bernstein hat, was ihnen übernatürliche Kräfte verleih...