Aurora
«Hexenkind. Hexenkind. Hexenkind.»
Alle starrten mich an und riefen laut, immer wieder:
«Hexenkind. Hexenkind. Hexenkind.»
«Hört auf!», schrie ich laut und hielt mir dabei beiden Hände an die Ohren, um es nicht mehr hören zu müssen.
«Seit still!»Ich wandte mich wieder dem Jungen unter mir zu und drehte ihn auf den Rücken. Auf dem Boden unter ihm hatte sich eine orange Lache gebildet. Blut. Langsam wanderte meine Hand zu seinem Herz. Ich wusste nicht, was ich damit bezwecken wollte. Unter mir war es still, kein Pochen, kein Atmen, nichts. Nur eine eisige Kälte. Es schien, als hätte alle Wärme seinen Körper verlassen und nur eine kalte, leere Hülle zurückgelassen.
Ich verstand nicht. Ich fühlte nichts. Um mich herum war es nun still geworden. Ganz still.
Aus meiner Verzweiflung heraus beschwörte ich mein Amber herauf, nur ganz leicht, und liess einen Funken durch seinen Körper fahren.
Dieser erzitterte dabei leicht, war aber wenig später wieder totenstarr. Eine Sekunde lang passierte nichts.Und dann, innerhalb weniger Sekunden, wurde meine Hand immer wärmer, bis sie unglaublich heiss wurde. Ich schrie erschrocken auf, wollte meine Hand wegziehen, aber ich konnte nicht. Es fühlte sich an, als ob ein unendlich schweres Gewicht auf meiner Hand lag und es mir so unmöglich machte, sie auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
Es wurde heisser und heisser und bald fühlte es sich an, als würde meine Hand verbrennen. Diese grauenhafte Hitze breitete sich schnell über meinen ganzen Körper aus. Voller Angst schaute ich mich um, man hatte einen grossen Kreis um mich gebildet, und alle blickten mich stumm und verstört an.
«Bitte... helft mir!», bat ich sie zwischen meinen Schreien verzweifelt.
Doch sie blieben reglos stehen, niemand kam aus den Reihen, um mir zu helfen.
Alle liefen zurück zu ihrem Haus und sie liessen mich alleine im Regen stehen.
Doch das schlimmste war nicht einmal die Hitze. Anfangs hatte ich es fast nicht bemerkt, aber es fühlte sich so an, als würde das Leben aus meinem Körper schwinden. Ich warf den Kopf in den Nacken, voller Verzweiflung und Hilflosigkeit. Zwischendurch wurde mir immer wieder kurz schwarz vor Augen, jedes Mal hoffte ich, es war der Tod, der endlich erlösend kommen würde. Aber er kam nicht. Ich brüllte mir die Seele aus dem Leib, bis nichts mehr als ein krächzen herauskam.
Ich blickte den Körper an, auf den meine Hand so brutal gepresst wurde. Er schien rötlich-golden zu schimmern, aber wahrscheinlich war das nur eine Halluzination, welche durch die unglaublichen Schmerzen entstanden war.Langsam nahm ich um mich herum alles nur noch verschwommen war und ich spürte, wie ich drastisch an Kraft verlor. Es fühlte sich an, als würde ich in einen tiefen Schlaf gleiten. Je weniger Kraft ich hatte, desto mehr liess die Hitze nach. Mit dem Schreien hatte ich schon lange aufgehört. Meine Atmung verlangsamte sich. Ich schloss meine Augen. Aus der Ferne hörte ich einen Körper aufschlagen.
Ein leichter Windhauch weckte mich. Langsam öffnete ich die Augen. Das Gras kitzelte meine nackten Füsse. Fernes Vogelgezwitscher war zu hören. Ich setzte mich auf. Vor mir erstreckte sich eine riesige, grüne Wiese, soweit das Auge reichte. In ihr befanden sich tausende von Blumen, in jeder erdenklichen Farbe. Ihr Duft war leicht und angenehm zu riechen. Als ich hinaufblickte, sah ich die Sonne scheinen und es war strahlend blauer Himmel. Meine Lippen öffneten sich voller Staunen. Solch einen wunderschönen Ort hatte ich noch nie gesehen.
In der Ferne sah ich jemanden auf mich zukommen. Es war eine Frau, sie trug ein hellgrünes Kleid und beim Näherkommen sah ich, dass sie blondes, gewelltes Haar hatte. Auch ich bewegte mich auf sie zu, rannte beinahe. Als ich vor ihr zum Stillstand kam, staunte ich. Sie sah mir unglaublich ähnlich. Zwar waren ihre Augen von einem leichten blau und nicht wie meine dunkelbraun und sie war älter als ich, aber unsere Gesichtszüge waren beinahe identisch.
«Hallo Aurora», sprach sie sanft.
Diese bekannte Stimme liess mich erschaudern.
«Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe.»
«Mutter?», erklang meine erstickte Stimme.
Sie nickte lächelnd. Sie sah so anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte, jünger, glücklicher. Sie strich mir über die Wange.
«Bin ich...»
Ich beendete den Satz nicht, ich konnte dieses Wort nicht aussprechen.
«Nein, Aurora, du lebst noch», sprach sie.
«Aber du musst durch diese Tür treten», sie zeigte neben sich, wo nun auf einmal eine geschlossene Tür stand, «damit du wieder in die Welt der Lebenden zurückkommst.»
«Wie... wie kann es denn sein, dass ich hier bin?», flüsterte ich.
«Das hängt mit deiner Begabung zusammen. Du kannst Menschen heilen, selbst wenn sie schon gestorben sind.»
Ich sah sie verwirrt an.
«Was glaubst du denn, was du gerade getan hast?»
Verwundert sah ich sie an.
«Das heisst... ich habe ihn nicht umgebracht?», flüsterte ich erstickt.
«Doch, er ist gestorben. Aber du konntest ihn zurückbringen.»
«Aber wie...?»
«Meister Kontu wird es dir erklären», unterbrach sie mich.
Plötzlich leuchteten meine Augen freudig auf.
«Dann kann ich ja...»
Sie schien meine Gedanken zu erraten. Traurig lächelte sie mich an.
«Nein, Aurora. Es ist sehr gefährlich, Menschen vom Tod zurückzuholen. Du wärst beinahe selbst ums Leben gekommen. Und ich habe mich schon von meinem Leben verabschiedet. Es hat keinen Sinn, mich zurückzuholen. Hier kann ich über dich wachen.»
«Aber es ist meine Schuld! Meine Schuld, dass du tot bist!», rief ich entrüstet.
Sie sah mich an, ihr Gesichtsausdruck wurde ernster. Sie berührte mich an den Schultern.
«Aurora, hör mir gut zu. Es ist überhaupt nicht deine Schuld, dass ich gestorben bin. Wenn, dann ist es meine.»
Ich sah sie verwirrt an.
«Deine? Wie kann es deine schuld sein?»
Gequält blickte sie mich an.
«Das wirst du noch genug früh lernen.»
Auf einmal drängte sich mir eine ganz andere Frage in den Vordergrund.
«Warum hast du mir nie über das Amber erzählt, warum haben wir nicht bei den Amalintas gelebt? Warum hast du mir nicht erzählt, dass ich einen Bruder hatte?»
Traurig sah sie mich an.
«Nach dem Tod deines Vaters konnte ich nicht mehr an die andere Welt und an das Amber denken. So wie er das Tor zur anderen Welt geschlossen hat, so habe auch ich innerlich damit abgeschlossen. Es tut mir wirklich leid», sagte sie, um ein Lächeln ringend.
«Aber nun musst du gehen. Oder du kannst das Reich der Toten nicht wieder verlassen.»
Ich blickte zur Tür, sie schien immer durchsichtiger zu werden.
«Aber ich will nicht. Ich will nicht zurückkehren!»
«Aurora, du musst. Du hast eine Bestimmung. Und nun hör mir gut zu: Deine Begabung, Menschen zu heilen, ist einzigartig und wundervoll. Aber bringe niemanden mehr vom Tod zurück. Es ist sehr gefährlich den natürlichen Verlauf der Natur zu ändern. Und wenn du einmal beschlossen hast, jemanden vom Tod zurückzuholen, kannst du deine Entscheidung nicht mehr ändern. Und wenn es dich zu viel Kraft kostet, wirst du sterben. Du hattest nochmals Glück gehabt.»
Sie hielt kurz inne. Dann sagte sie:
«Überlege dir, wer wirklich deine Familie ist. Verlier dich nicht in deiner Macht. Kontrolliere sie. Und nun, geh.»
Langsam bewegte ich mich auf die Tür zu, welche schon so verblasst und durchsichtig war, dass sie fast nicht mehr als solche erkennbar war. Ich berührte schon den Türknauf, drehte mich dann aber noch einmal um.
«Ich liebe dich», flüsterte ich.
Sie lächelte mich an.
Dann öffnete ich die Tür und trat hinein.
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Amber - Das Erwachen
FantasyNach dem Überfall auf ihr Haus wird Aurora ins Lager der Amalintas - der Beschützer der Welt - gebracht. Es stellt sich heraus, dass Auroras Blut, genau wie das Blut der Amalintas, die Farbe von Bernstein hat, was ihnen übernatürliche Kräfte verleih...