~17~

100 7 1
                                    

,,Und als wir dann ins Sekreteriat gegangen sind, hat Frau Bach einfach angerufen und gesagt ,Cristina, ein paar Schüler warten auf dich.' Und dann kam Frau Holm und hat sich tausendmal entschuldigt."
Miranda redete schon die ganze Autofahrt, seit sie und Dad mich vom Bahnhof abgeholt hatten. Sie wollte mir wohl alles aus ihrer Woche erzählen, was ziemlich ermüdend war.
,,Hast du mir eigentlich zugehört?", fragte sie, als mein Gesicht keine Regung zeigte.
,,Nein, tut mir leid.", sagte ich ehrlich.
Miranda verdrehte wohl die Augen, sicher sein, konnte ich mir da jedoch nicht, da ich aus dem Fenster sah. Aber das würde zu ihr passen.
,,Ich habe dir gerade erzählt, dass meine Französischlehrerin einfach nicht in die Stunde gekommen ist. Sie hat uns vergessen."
,,Achso." Ich merkte selbst, wie eintönig das klang. ,,Das ist ja blöd.", fügte ich deshalb noch hinzu.
Glücklicherweise bogen wir in diesem Moment in unsere Einfahrt ein, wodurch Mirandas Redensfluss endlich stoppte.
,,Ach Diana.", sagte Dad beiläufig, als ich meine Hand schon am Türgriff hatte.
,,Es gibt noch eine kleine... naja... Überraschung." Er grinste.
Ich öffnete die Tür und stieg aus. Als ich meinen Koffer aus dem Kofferraum geholt hatte, ging ich über die Hintertür bei der Garage ins Haus.
,,Diana, schön, dass du wieder da bist!", begrüßte Mum mich sofort, als sie mich sah.
,,War's schön?"
Ich nickte, während sie mich umarmte. Auf einmal hörte ich ein Mauzen. Ich sah mich um. Hinter Mum stand das süßeste Wesen, das ich je gesehen habe. Es war ein kleines Katzenjunges, rotbraun, mit weißen Sprenkeln, einer weißen Pfote und einem weißen Ohr. Und wunderschönen dunkelgrünen Augen.
,,Oh, du hast Ruby schon kennengelernt.", sagte Miranda, die gerade hereinkam.
,,Ruby? Sie ist wirklich süß. Aber... Was habe ich eigentlich verpasst?"
Dad hatte sich doch immer gegen ein Haustier gesträubt. Warum hatten wir plötzlich eine Katze? Noch dazu so eine kleine Süße.
,,Die Katze von einem meiner Kollege hat Junge bekommen und er und seine Frau wollten sie verschenken. Sie hatten auch schon liebevolle Besitzer für Ruby. Aber die mussten kurzfristig absagen. Ihr Vermieter hat irgendwelche Probleme gemacht. Und dann wurde die Zeit knapp und da Ruby nicht sehr stark ist, dachte mein Kollege daran, sie einfach zu töten. Das konnte ich doch nicht zulassen!"
Ich konnte es mir super vorstellen, dass der Kollege das Dad erzählt hatte und dieser dann sofort Einspruch erhoben hat.
,,Er hat ihm ein paar Bilder gezeigt und aus war es mit seiner Beherrschung." Mum stand mit verschränkten Armen an der Wand gelehnt.
,,Aber ich hatte auch nichts dagegen, Miranda ebenfalls nicht und du wolltest eh schon immer eine Katze, oder? Also haben wir am Dienstag entschieden, Ruby bei uns aufzunehmen."
Ich ging vorsichtig auf Ruby zu. Sie mauzte mich an. Ich streckte immer noch vorsichtig die Hand aus, um das Kätzchen zu streicheln. Sie sah mich zutraulich an und begann, um mich herum zu streifen.
,,Das ist ein gutes Zeichen.", begann Miranda sofort. ,,Auf diese Art markiert sie dich so zu sagen. Das heißt, du bist ihr Revier, du gehörst ihr und nicht einer Nachbars Katze. Apropos Nachbarn. Was ist eigentlich mit Josefa los? Ich höre sie zurzeit kaum. Ist sie irgendwie krank? Weißt du da irgendwas, Dia?"
Ich erstarrte. Ich wusste zwar ein bisschen etwas, konnte genauer jedoch nur Spekulationen anstellen. Allerdings war die Tatsache, dass andere mittlerweile auch etwas bemerkten ebenso beunruhigend wie offensichtlich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Frau Sanders die verrücktesten Gerüchte in die Welt setzten würde. Und dann würde jeder irgendwas denken. Es würde nur nicht einmal Frau Sanders einfallen, dass Josefas Abwesenheit mit einem Korridor, von dem aus Türen in alle Träume dieser Welt führten, zusammenhängen könnte. Gedankenverloren streichelte ich Ruby weiter und vergaß dabei beinahe, dass Miranda eine Antwort von mir erwartete.
,,Ähm, nein, keine Ahnung.", entgegnete ich also. ,,Aber lass endlich diesen Spitznamen. Zwei Buchstaben mehr zu sagen bedeutet nicht die Welt!"
Miranda seufzte und verdrehte die Augen.
,,Ach komm schon. So schlimm ist Dia nicht. Oder soll ich mir was neues einfallen lassen? Didi zum Beispiel. Oder Dio. Oder wie wäre mit..."
,,Hör damit auf.", unterbrach ich sie genervt. ,,Kaum ist deine Schwester wieder zu Hause, musst du sie nerven. Das war so klar."
Miranda öffnete den Mund, schloss ihn allerdings sofort wieder. Sie sah mich einen Augenblick an und öffnete dann ihren Mund erneut.
,,Ich habe dich vermisst, Diana.", sagte sie nur und lächelte.

,,Was ist denn das?"
Fragend hielt Mum das Kissen von Henry hoch. Wir waren in meinem Zimmer und sie half mir, meinen Koffer auszuräumen. Ruby saß währenddessen auf meinem Schreibtischstuhl und schnurrte. Ab und zu bewegte sie ihren Kopf und sah sich jedes Mal geschockt um, wenn sich der Stuhl dann ein wenig drehte. Wenn er sich dann aber nach zwei Sekunden wieder beruhigt hatte, entspannte sie sich sofort. Ich hatte gerade unauffällig die Armbänder in meine Hosentasche verschwinden lassen, als Mum mit dieser äußerst blöden Frage kam.
,,Ähm... Das ist von Bianca. Die, mit der ich im Zimmer war. Sie äh hat es mir gegeben, weil ihr Koffer so voll war. Ich soll es ihr nach den Ferien wieder geben."
,,Aber...", Mum sah mich stirnrunzelnd an. ,,Ist Bianca nicht eine von den Zwillingen aus deiner Klasse? Warum hat ihre Schwester das Kissen nicht genommen? Das wäre doch viel einfacher gewesen."
Verdammt. Warum musste sie sich so ein verflucht gutes Gedächtnis haben? Dabei war das doch ein wirklich guter Einfall.
,,Ihr Koffer war auch voll. Deshalb habe ich diesen Schal für sie mitgenommen."
Ich hielt Graysons Schal hoch. Na bitte, so hatte ich dafür auch schon Mal eine Begründung. Und ein Haargummi würde nicht weiter auffallen.
,,Das ist aber wirklich nett von dir."
Mum schien mit dieser Erklärung nicht ganz zufrieden zu sein. Ich wechselte schnell das Thema, um nicht noch mehr lügen zu müssen.
,,Miranda geht es offenbar wieder gut, oder? Sie hat jedenfalls die ganze Zeit geredet und war offenbar wieder in der Schule."
Am letzten Wochenende war sie noch krank gewesen und am Montag hatte Mum in der früh darauf bestanden, dass sie zu Hause blieb.
,,Ja. Ja, Ihr geht es wieder gut, sie wollte am Dienstag auf keinen Fall zu Hause bleiben. Sie hat gesagt, dass sie dann ja keine Chance mehr hat, den Stoff nach zu holen. Naja, wenn sie Leila fragt wohl kaum. Was habt ihr eigentlich alles so gemacht?"
Ich brauchte einen Moment,  um zu verstehen, dass sie die Klassenfahrt meinte.
,,Also an den ersten Zwei Tagen genau das, was geplant war. Eine Rally und die Klamm. Aber ab Mittwoch hat es geregnet. Deshalb wurde das Nebelhorn vom Donnerstag abgeblasen. Wir haben dann eine nette Spielrunde gemacht. Naja, so nett es bei Frau Müller sein kann."
,,Und mit wem warst du im Zimmer?"
,,Bianca und Mia, wie ich ja schon gesagt habe und Sandra und Lucy. Ich verstehe mich zurzeit echt gut mit ihr."
,,Und Ella? Wo war sie?"
Ich biss die Zähne zusammen. Ich hatte absolut keine Lust über Ella zu reden.
,,Bei Carina. Und Xenia und Alice.", presste ich hervor.
Mum runzelte die Stirn.
,,Ist irgendwas? Mit dir und Ella, meine ich."
Ich seufzte. Wie sollte ich ihr unseren Streit erklären, ohne dabei die Träume und Liv und Mia zu erwähnen?
,,Wir haben uns gestritten.", sagte ich tonlos. ,,Sie hat mir schwachsinnige Dinge an den Kopf geworfen."
,,Das wird schon wieder. Sie wird verstehen, dass sie Unrecht hat. Und sollten diese schwachsinnigen Dinge wahr sein, wirst du das erkennen. So oder so, Ihr werdet euch wieder vertragen. Da bin ich mir absolut sicher."
Mums Worte waren tröstlich, jedoch bezweifelte ich ihren Wahrheitsgehalt.
,,Mal sehen.", murmelte ich.

Ich saß im Garten und las ein wenig. Besser gesagt, ich versuchte zu lesen, was jedoch durch mehrere Faktoren beinahe unmöglich gemacht wurde. Herr Sanders mähte nämlich gerade laut Rasen und hörte sich dabei durch das offene Fenster eine Oper von Mozart an. Und durch den lauten Streit von Osmin und Belmonte (,,Er ist fürwahr ein guter Tropf!" ,,Auf einen Pfahl gehört sein Kopf!") konnte man sich kaum konzentrieren. Wohlgemerkt, das war der selbe Nachbar der sich beschwerte, wenn man vor neun Uhr im Garten war und zum Beispiel Ball spielte.
Außerdem schweiften meine Gedanken die ganze Zeit ab. Entweder zum Korridor und den schlafenden Leuten oder zu Ella. Beides war nicht allzu erfreulich und ich konnte meine Gedanken dann kaum von diesen Problemen abwenden.
Und dann, als der Chor bei Herr Sanders ,,Singt des schönen Bassers Lieder" sang, kam Miranda mit Ruby auf dem Arm nach draußen und setze sich zu mir.
Resigniert schlug ich das Buch zu.
,,Und?", fragte Miranda mich. ,,Hast du Lottie getroffen?"
Ich bekam einen Schreck. Woher wusste sie, mit wem ich mich getroffen hatte? Dann fiel mir unser Gespräch, eineinhalb Wochen zuvor ein. Sie hatte gesagt, dass Oberstorf der Ort war, wo Lottie wohnte und mir scherzhaft vorgeschlagen, sie oder ihre Verwandten zu treffen. Ich entspannte mich augenblicklich wieder.
,,Nein, natürlich nicht.", erwiederte ich ruhig. ,,Lottie gibt es doch gar nicht wirklich. Ehrlich Miranda, hast du zu viel gelesen?"
Ich versuchte, eine Augenbraue hochzuziehen, es klappte aber natürlich nicht.
,,Keine Sorge. Wenn jemand zu viel gelesen hat, dann bist du das. Oder wer klaut hier wessen Socken, um in seine Träume zu kommen?"
Nun ja, ich.
,,Aber ich weiß doch natürlich, dass der Korridor nicht existiert.", erwiederte ich. Was für eine Lüge. ,,Komm schon, ich darf ja wohl ein bisschen verrückt sein. Schau dir mal Ella an und andere verrückte Potterheads an. Die können noch viel extremer als ich sein."
Mirandas Socke... Ich hatte ihn komplett vergessen. Ob ich wohl mal herausfinden sollte, was sie so träumte? Interessant wäre es allemal.

Silber- Das vierte Buch der TräumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt