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[BRYAN]

Fassungslos sah Bryan dem Jungen entgegen.

Ich suche meinen Halbbruder.

Die Worte wollten Bryans Kopf nicht verlassen. Er wusste, dass sein Vater eine Liebhaberin hatte und auch mit ihr verschwunden ist, dennoch überrumpelte ihn die Tatsache, dass er mit ihr noch ein anderes Kind gezeugt hatte und dieses nun vor ihm stand. Yuris war gerade mal zwanzig Jahre alt. Bryan war dreiunddreißig. Dreizehn Jahre alt war er also, als sein Vater seinem neuen Sohn in die Augen geblickt hatte und ihm die väterliche Liebe schenkte, die Bryan so früh verloren hatte.

"Woher kennst du meinen Namen?"

Die Augen des Jungen fingen an zu funkeln.

"Dann bist du es! Du bist Bryan, der erste Sohn meines...unseres Vaters. Du weißt gar nicht wie lange ich nach dir gesucht habe."

Bryan baute sich bedrohlich vor Yuris auf. Er streckte sich sogar noch ein wenig, um seine von Natur aus große Größe noch mächtiger wirken zu lassen.

"Beantworte meine Frage. Woher kennst du meinen Namen? Keiner kennt ihn und jetzt kommst du an mein Haus und behauptest du wärst mein Halbbruder."

Ängstlich betrachtete Yuris seinen gegenüber.

"Ich werde dir alles erklären. Aber vielleicht können wir das in deinem Haus machen. Hier draußen ist es arschkalt."

Der Anführer der White Skulls musterte seinen Gegenüber misstrauisch. Er konnte nicht einfach so einen wildfremden in sein Haus lassen. Vor allem nicht weil unter seinem Haus ein illegaler und krimineller Clan hauste, den er anführte. Aber sein Bauchgefühl riet ihm Yuris zu vertrauen. Bryan machte einen Schritt zur Seite und mit einer einladende Handbewegung lies er Yuris eintreten.

Yuris betrachtete neugierig den Raum, doch Bryan wollte ihn so schnell wie möglich aus dem Vorzimmer schaffen, denn jede Sekunde könnte ein Scorpion oder Gemma oder einer der anderen hinter dem Kamin rauskommen. Er konnte es nicht riskieren seine Leute in Gefahr zubringen.

„Wir gehen nach oben. Dort ist mein Büro."

Ohne ein weiteres Wort ging er die Treppe nach oben und Yuris beeilte sich hinter her zu kommen. In Bryans Büro angekommen bot er dem Jungen einen Platz an den er dankend annahm. Dann setzte sich Bryan gegenüber, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme.

„Du bist mir eine Erklärung schuldig. Und die ist um deines Willen gut genug, dass ich dich nicht aus dem Haus schmeißen muss."
Yuris schluckte schwer und schloss kurz die Augen. Als er sie wiederöffnete starrte Bryan ihn an.

„Deine Augen. Sie sind blau." stellte er trocken fest.

„Ja, aber keine Sorge. Ich war schon als kleines Kind bei den Brüdern in Sihiri. Ich bin rein. Oleus ist nicht in mir manifestiert."

Bryan nickte. Er mochte zwar nicht an die Götter glauben, aber die Prophezeiung kannte selbst er. Und sie beschäftigte ihn schon seit er sie das erste Mal gehört hatte. Wegen besagter Prophezeiung wurde jedes Kind, das mit blauen Augen geboren wird, nach Sihiri gebracht, sodass die Heiligen Brüder diese von Oleus reinigen konnten. Keiner wollte das Risiko eingehen, dass sein Kind dasjenige sein könnte, das ein ganzes Land in den Ruin stürzen könnte.

„Nun, wo soll ich anfangen? Du musst wissen, ich war kein sehr gutes Kind.Ich habe nicht auf meine Eltern gehört und durfte deswegen auch nie mit auf die Jagd. Nachts habe ich mich oft aus dem Haus geschlichen,um mir selbst beizubringen, wie man jagt, Tiere erlegt und sich verteidigt. So auch diese eine Nacht. Es gab ein Feuer. Ich habe nur Schutt und Asche vorgefunden. Ich habe alles und jeden verloren den ich geliebt habe. Das war vor drei Jahren. Kurz nachdem dies alles passiert ist, bin ich der königlichen Garde beigetreten, in der Hoffnung mehr darüber herauszufinden, wer das Feuer gelegt und meine Familie umgebracht hat. Vater hat davon erzählt, dass er einen älteren Sohn, namens Bryan hatte und ich konnte relativ schnell herausfinden, wie er vor der Heirat mit meiner Mutter geheißen hat. Und dadurch, dass ich im Palast arbeite, war es ein leichtes in das königliche Archiv einzudringen und Aufzeichnungen über jeden Bryan Maganti in Elbjen zu finden. Dann konnte ich durch die Erzählungen von Vater eingrenzen wo ich suchen muss. Und schließlich habe ich dich gefunden."

"Und was wirst du jetzt tun? Du hast mich gefunden, bist hier, aber doch nicht nur, um mir zu erzählen, dass mein...unser Vater vor drei Jahren bei einem Feuer umgekommen ist?"

Yuris schüttelte den Kopf und legte die Handschuhe, die er trug, ab. Narben besetzte Finger kamen zum Vorschein, verbrannte Haut, die nie vollständig geheilt war. "Ich will Rache. Was man mir angetan hat, meiner Schwester, meiner Mutter, unserem Vater, dem Dorf - all das will ich dem Mörder zurückgeben." Bryan stockte kurz, als Yuris seine Schwester erwähnte. Sein Vater hatte also noch ein Kind gezeugt. Doch Yuris kümmerte sich nicht um die Zusatzinformation, die er Bryan unwissentlich entgegenwarf.

"Ich will ihn verbrennen, wie ich meine Schwester verbrennen musste, damit ihr die letzte Ehre erwiesen wurde, ich will ihn zerschneiden, wie meine Mutter die Felle und das Leder zurecht geschnitten hatte. Ich will ihn kontrollieren, so wie unser Vater es am Anfang getan hat und ich will ihn zerstören. Bis auf die Grundmauern seiner Seele."

Blinder Hass flammte in den blauen Augen auf.

"Und noch etwas. Ich habe das hier gefunden." Er griff unter seine Jacke und zog einen Dolch heraus. Die Klinge war dünn wie Papier und der Griff mit einfachem, schwarzen Leder umwickelt.

Bedauern und Schuld sprach aus der leicht kratzigen Stimme und sein Blick huschte über das Metall. Bryan und lehnte sich vor. Der Dolch kam ihm bekannt vor, doch vielleicht irrte er sich auch, denn immerhin waren das ganz normale Dolche, die man in jedem dritten Waffenladen fand.

"Ich hätte mit ihnen sterben sollen."

"Was hätte dir das gebracht?"

"Ich weiß es nicht, aber..." Yuris hatte sich verzweifelt auf den Stuhl sinken lassen und krallte seine Finger um das Heft des Dolches."Mein Glaube war nicht stark genug."

"Der Glaube wird nie eine Seele vor dem Tod bewahren. Ich habe mich schon lange davon getrennt."

"Und ich habe ihn vor drei Jahren abgelegt. Auch, wenn das im Palast niemand weiß. Ich habe meinen eigenen Glauben."

"Den Glauben an dich selbst", sprach Bryan und Yuris nickte. Es erschreckte ihn ein bisschen, wie ähnlich ihm dieser Junge doch war.Als wären sie ein und dieselbe Person.

Bryan sah aus dem Fenster. Dicke Schneeflocken tanzten im Wind und bedeckten die Erde mit einer dicken Puderschicht.

"Hilfst du mir ihn zu finden?" Yuris Stimme klang wieder fest. Selbstbestimmt. Ehrgeizig. Wütend. Rachsüchtig.

Bryan drehte sich auf seinem Stuhl dem Jungen zu. "Hast du denn eine ungefähre Ahnung, wer der Mörder sein könnte?"

"Es war alles voller Asche. Verbrannt. Schwarz. Heiß. Ich erinnere mich an so wenig. Wenn ich mich jetzt noch versuche an das Feuer zu erinnern, kommt es mir so vor, als würde ich alles durch eine dicke Rauchwand betrachten. Als hätten die Geschehnisse nicht mich,sondern einen anderen betroffen. Doch dann, dann blitzt etwas auf. Und es ist dieser Dolch. Der Mörder hat ihn hinterlassen."

Jetzt endlich schob Yuris Bryan die Waffe zu und als der blonde Anführer sie in die Hand nahm, bestätigte sich sein Verdacht von vorhin. Eine einfach Klinge, wie man sie in jeder Schmiede erhalten konnte... -oder auch nicht?

Seine Finger fuhren die Schneide entlang, hatten sich ihrer Schärfe bestätigt und stoppten schließlich am Heft. Das Leder war weich, abgenutzt, aber trotzdem noch wie neu. Als hätte man ihn nur selten benutzt - und das vor langer Zeit. Doch der Zustand des Leders war nicht das, was Bryan stutzen ließ. Es waren die Initialen, die sich an der Unterseite befanden. Sie wurden hineingeritzt, fein und säuberlich und Bryan erkannte die Buchstaben auf Anhieb - N.W.

Sein Magen zog sich zusammen und Galle stieg ihm in den Hals. Sein Herz wummerte stark gegen seine Brust und mit zitternden Händen ließ erden Dolch sinken. "Und du bist dir sicher, dass der dem Mörder gehört?"

Yuris nickte. „Ich bin mir sicher. Keiner in meinem Dorf trug einen Namen mit diesen Initialen."

"Dieses VERDAMMTE ARSCHLOCH!", schrie Bryan plötzlich, stand auf und rammte mit voller Wucht die Klinge in seinen Schreibtisch, sodass das Holz knackte und sich ein feiner Riss durch den Tisch zog. "ICH BRINGE IHN UM!"

Er blickte zu Yuris und ein hasserfülltes Grinsen breitete sich auf seinen schmalen Lippen aus.

"Nein Bryan. Wir bringen ihn um."

White SkullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt