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[SCORPION]

Er hetzte den Hügel hinunter. Seine Beine bewegten sich von alleine. Seine Gedanken wirbelten und vor seinen Augen drehte sich die Welt einfach mit. Die Bäume und Sträucher rauschten an ihm vorbei und jeglicher Orientierungssinn war ihm abhanden gekommen. Er atmete stoßweise und gelangte vom Schatten des Waldes auf eine mondlichtbeschienende Lichtung.

Er wusste nicht wie weit er gelaufen und wann er aus ihrem Versteck geflohen war, als er mit einem Mal feststellte, dass er nicht mehr weiter konnte. Er ließ sich einfach an Ort und Stelle fallen. Als er dort im Halbschatten eines Haselnussstrauches lag, wurde das Drehen um ihn herum schließlich langsamer. Sein Atem ging unregelmäßig, dann immer langsamer, bis er ruhig Luft durch seine Nase in die Lungen sog. Er hörte das Rascheln von kleinen Tieren im Unterholz, den Wind durch die Blätter und erst jetzt drang die Kälte des Schnee's durch seinen Mantel. Berührte eisig seine Haut.

Ein Ast knackte. Jemand kam.

Sofort sprang er auf und sah sich vorsichtig um. Innerlich regte sich etwas, doch er konnte nicht sagen was. Zu groß war der plötzliche Wunsch einfach nur zu verschwinden. Oder auch nicht?

Verschwinde.

Töte sie.

Verschwinde.

Töte sie.

Der Wechsel seiner Gedanken rief den Schwindel zurück, doch mit dem nächsten knackenden Geräusch eines Astes verstummten sie. Doch es klang weiter entfernt. Doch nur ein Tier?

Es war egal. Ob Tier oder nicht. Er würde gehen.

Flink drehte er sich um und lief an das andere Ende der Lichtung. Plötzlich aber stolperte er und landete kurz darauf im Schnee. Ein eigenartiger Geruch drang in seine Nase. So plötzlich, dass er sich fühlte, als hätte er einen Schlag gegen den Kopf bekommen.

Verbrannte Haut. Schnee. Blut....Viel Blut.

Er sah hinter sich. Suchte in der Dunkelheit nach der Ursache, weshalb er gestolpert war. Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Eigentlich wurde ihm nicht so oft schlecht.
Doch das gab ihm in diesem Moment den Rest.

Vor ihm sah er einen Körper im Schnee liegen. Er war verkrümmt. Der Kopf unnatürlich weit nach links gedreht. Er wollte der Person, die da am Boden lag: "Ey, aufstehen." zurufen. Doch das Genick des Mannes war gebrochen. Tote Augen starrten ihn über den grellweißen Schnee an. Auf dem nackten Rücken war ein Dreieck reingeritzt, mit der Spitze nach unten.

Das Böse war hier.

Scorpion spürte die Übelkeit in sich aufsteigen und ehe er sich versah übergab er sich neben der entstellten Leiche. Er hustete und spürte den ekligen metallischen Geschmack im Mund. Blut.
Sein Körper war mit einem Mal so geschwächt, dass er sich neben die Leiche auf den Rücken legte und das erste Mal seit 26 Jahren betete er.

"Nuhohr, Gott der Hoffnung, falls du mich hörst, bitte, rette diese arme Seele. Hilf mir. Bitte."

Er flüsterte immer und immer wieder seine Worte und spürte wie die Kälte von seinem Körper langsam Besitz ergriff. Der Mann wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. Es war noch nicht seine Zeit Orion zu besuchen. Als er an seinen Freund dachte und wie er unter dem Eis lag kamen ihm die Tränen. Es war nicht seine Schuld. Oder doch?

Der Braunhaarige war sich nicht mehr sicher. Die ganzen Anschuldigungen die Gemma ihm an den Kopf geworfen hat und die ungläubigen Blicke von Grace und Viper. Und Timbers, der ihn voller Trauer und Reue mit seinen obsidianfarbenen Augen ansah, die ihn so sehr an die von Grace erinnerten. Es tat ihm fast schon leid, dass es so zwischen ihm und Timbers gelaufen ist. Er kniff die Augen fest zu und schrie.

"Nuhohr! Hör mich an! Es ist nicht meine Schuld! Bestraft mich nicht für etwas, dass ich nicht hätte abwenden können!"

"Vielleicht hättest du es abwenden können. Vielleicht auch nicht. Aber es war zu spät für ihn. Seine Zeit war gekommen."

Verwirrt öffnete Scorpion seine grauen Augen. Hatten die Götter ihm gerade wirklich geantwortet? Vor ihm wurde die Lichtung in ein silber-weißes Licht gehüllt, so als würde der Mond sein ganzes Licht auf ihn scheinen lassen. Aus dem Licht trat eine vermummte Gestalt, die sich vor ihm nieder kniete. Ihr Gesicht kam ihm so vertraut vor.

"Mutter?", flüsterte er, so als wolle er sie nicht erschrecken.

Ein Lächeln trat auf die Lippen der weiblichen Gestalt. "Die Götter allein wissen, wann es an der Zeit ist, sich den Sternen anzuschließen.", fuhr sie fort.

"Aber er nicht.", wimmerte Scor und kniete nun vor der weißen Gestalt. Seine Mutter sah genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Dunkle Haare, die sanft um ihr blasses Gesicht fielen und dann ihre schokoladenbraunen Augen. "Er war noch jung und...er hatte immer so fest an die Götter geglaubt. Er hat ihnen sein Leben gegeben, warum also hatten sie ihn zu sich geholt?"

"Der Glaube anderer, vermag manchen Menschen nicht zu gefallen.", flüsterte sie und Scor sah, wie sich das Licht um sie herum langsam auflöste. Verwirrt schüttelte Scor den Kopf.

"Aber, er liebte die Götter. Liebe..."

"Liebe rettet und zerstört, Scorpion. Du selbst, wirst das noch erfahren." Dann verblasste das Licht endgültig und Scorpion's Hand, die sehnsuchtsvoll nach dem Gewand seiner Mutter griff, fiel durch den silbernen Schimmer hindurch und seine Finger berührten den kalten Schnee. 

Tränen rannen ihm übers Gesicht, was ihm erst bewusst wurde, als sie auf seine Hände tropften. Schnell rappelte er sich auf und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht.

Es hatte angefangen zu schneien und der Neuschnee bedeckte langsam die Leiche des Mannes, der in seiner Blutlache lag. Der beißende Gestank drang wieder an seine Nase und schnürte ihm die Kehle zu. Scor blickte sich um und lief weiter. Er wollte weg. Weg von diesem Ort. 

Mit schnellen Schritten trat er auf die Bäume zu, stolperte durch Büsche und hoffte den Geruch von Blut und Tod aus der Nase zu verdrängen, als er immer stärker wurde. Er wusste nicht, wo er war oder wo der Geruch herkam, doch der nächste Blick nach vorne genügt, um ihn erneut schwindeln zu lassen.

Leichen, die bleich im Schnee lagen und mit ihm verschmolzen, würden da nicht Unmengen von Blut sein, das sich um sie herum verteilte. Ihre blutigen Leiber waren zerschlissen, und überall prangte das Zeichen von Oleus - das Dreieck mit der Spitze nach unten.

Scor übergab sich ein weiteres Mal im Schnee und auch, wenn er es nicht wollte, stolperte er auf die Leichen zu. Ausgebrannte Augen schienen ihm entgegen zu starren und matschiger, roter Schnee war überall zu sehen. Das Schauspiel aus schwarzen Bäumen, die ihre blattlosen Äste wie dürre Finger in den Himmel reckten, weißem Schnee, getränkt in Blut, erschuf eine eigenartige Ästhetik. Sie wirkte beinahe eindrucksvoll.

Plötzlich durchfuhr Scor ein Gedanke.

Diese Toten mussten von irgendwem zermetzelt worden sein. Panisch blickte er sich um. Dieses Stück Wald kam ihm nicht sonderlich bekannt vor. Er musste stundenlang gerannt sein, in seiner blinden Verzweiflung. Doch jetzt musste er hier weg.

Das Blut war noch recht frisch, was bedeutete, dass der Mörder irgendwo in der Nähe sein musste. Blindlings stolperte er den Weg zurück. Weg von den Kadavern. Weg von all dem Blut.

Und tief in ihm hallte die Stimme seiner Mutter wieder.

"Liebe rettet und zerstört, Scorpion. Du selbst, wirst das noch erfahren."

White SkullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt