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[SCORPION]

Wie durch eine geschlossene Tür drangen die Stimmen von Viper, Grace und Gemma an Scorpions Ohr. Er hörte nur verschwommen ihre Worte und versuchte auch nicht, den Sinn zu verstehen. Es würde eh nicht klappen. Sein Kopf brummte, als hätte er zu viel Met getrunken und sich nun einen Kater eingefangen. Doch da war noch etwas anderes. Ein Ziehen und Kribbeln in ihm. Seine Finger fühlte sich heiß an und sein Herz pulsierte stark gegen seine Brust. Am liebsten hätte er seine Lederhandschuhe von den Fingern gezogen und sich auf den kalten Boden gelegt. Die Fliesen sahen so schön kühl aus. Doch vielleicht gab es hier Ratten und deshalb blieb er stehen und krallte sich stattdessen in das Regal, welches neben ihm stand. Sein Hals schnürte sich zu und er musste einen weiteren Huster unterdrücken.

Es ist wie Gift. Nicht schnell. Sondern träge, langsam, fließt es durch die Adern. Verteilt sich.
Klick klack.

Die ersten Male konnte er Grace davon überzeugen, dass er Staub eingeatmet hatte, doch ein weiteres Mal würde es nicht funktionieren, das spürte er. Krampfhaft schloss er seine grauen Augen, unterdrückte die Übelkeit und schnappte nach Luft. Plötzlich sah er die Umgebung ganz klar, hörte das Kratzen von Klauen auf dem Boden und das Fiepsen von Mäusen in Ecken. Er taumelte zurück und stieß unbeholfen gegen das Regal. Ein Buch fiel hinaus und knallte neben ihm auf den Boden. Im gleichen Moment rief Grace entsetzt: „Das ist eine Falle."

Sofort schrillten bei Scorpion die Alarmglocken, doch er war wie versteinert. Seine Füße wollten sich nicht bewegen und sein Blick war auf das Buch gerichtet, welches neben ihm auf dem Boden lag.

Sie sind wie Gift. Nicht langsam. Sondern schnell, hastig, stürmen durch die Adern. Verteilen sich.
Klick klack.

Beim Klang der fremden Stimme in seinem Kopf, zuckte Scorpion zusammen. Er hielt sich die Hände an die Ohren und wollte das Klicken verstummen lassen, doch es hörte nicht auf. Es klang wie das Ticken einer Uhr oder wie lange Fingernägel auf der Tischplatte. Oder doch wie das Knacken von Knochen?

„Komm jetzt." Grace packte Scorpion am Arm und zog ihn durch die Regalreihen. Alte Gemälde standen neben arrangierten Möbeln, in Bernstein eingeschlossene Pflanzen und Käfer, ungewöhnliche Steine, alte Vorhänge, Rüstungen und sogar einige Waffen lagerten in großen Kisten an den hintersten Wänden. Die Leuchtscheiben von Grace und Viper schwebten zwischen den Mitgliedern, die sich einen Weg durch das Archivlabyrinth bahnten. Scorpions Kopf brummte und seine Finger schwitzen. Die Haare klebten in seinem Nacken und wo ihm vorhin noch ganz kalt gewesen war, als sie draußen in den Palast geklettert waren, so war ihm jetzt so heiß wie...Bilder von Grace unter und über ihm in seine Bettdecke eingehüllt, mit einem Lächeln auf den Lippen, tauchte vor seinen Augen auf. Schnell schüttelte er diese Bilder weg und konzentrierte sich auf den Weg vor sich.

Er versuchte es, denn viel erkennen konnte er nicht. Sein Blickfeld war verschwommen und Grace Hand auf seinem Arm war das einzige was ihn durch die Reihen von Regalen und Kisten lenkte. Plötzlich blieben sie stehen. Grace drückte Scorpion nach unten und gehorsam ließ sich der Mann auf die Knie fallen. „Grace, was..." Doch sie legte ihre Hand auf seinen Mund. Erstickte die Laute, die bereit waren, seine Kehle zu verlassen. Sie legte einen Zeigefinger auf die Lippen und kniete sich dann neben ihn. Vorsichtig lugte sie hinter dem Kistenstapel hervor und duckte sich erschrocken.

„Wachen des Königs", flüsterte sie und sah Scorpion ernst an. „Was tun die hier?"

„Solltest du nicht den Finanzbeamten des Königs pflegen?", fragte Scorpion leise und sah, wie sich Grace' Augen vergrößerten.

„Verdammter Mist", fluchte sie und kniff die Augen zusammen. „Wenn die mich hier finden, dann..."

„Wir stecken alle in der Klemme", meinte Scorpion und sah um die Ecke. Der Lichtschein einer Taschenlampe leuchtete um die Ecke und dann sah er die Stiefel und den Umhang eines Gardisten.

Er schob sich zurück und sah nach vorne, wo Viper und Gemma sein mussten. Die Dunkelheit verschluckte sie beinahe vollkommen. Regungslos standen zwei dunkle Gestalten in der Nähe des Fensters in einer Nische. Viper erwiderte Scorpions Blick, denn obwohl er nicht die Augen seines besten Freundes erkennen konnte, so spürte er dessen brennenden Blick auf seiner Haut. Er fühlte, wie sie alle darauf hofften, er würde etwas tun. Er würde ein Ablenkungsmanöver starten, wodurch sie alle fliehen konnten. Doch sein Kopf war wie leergefegt. Er wusste nichts mehr. Der Plan des Palastes, Fluchtwege und alles was er sich eingeprägt hatte, war wie ausgelöscht.

Hinter und neben sich spürte er die Anwesenheit von Grace. Die Luft war eisig kalt und doch brannte seine Haut wie Feuer. Es war, als hätte er Fieber. Durch seinen Kopf stoben Bilder, Eindrücke und Worte. Er verstand nicht, was sie sagten oder bedeuteten und all das wirkte so intensiv, als hätte er einige Tage seines Lebens vergessen. Da war Grace, wie sie ihn umarmte, wie sie ihn küsste und ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte. Da war er, mit ihr, in seinem Bett. Er spürte ihre Finger auf sich, wie ihn ein heißes Kribbeln durchfuhr. Und dann war da plötzlich Hass. Trauer. Die dunklen Augen verengt, der Mund zu einem bestialischem Schrei geöffnet.

Scorpions Gedanken schlugen Purzelbäume, in seinem Kopf tanzten Bilder. Er wusste nicht, ob sie real waren oder nicht. Er spürte Grace' Finger auf seinem Rücken. Wie sie sanfte Kreise zogen. Spürte sie an seinem Hals, wie sie ihm die Kehle zudrückten und die Luft abschnürten. Und er spürte ihre Hände in seinen Haaren. Wie sie an den Strähnen zog und seinen Namen flüsterte.

Moment. Es war keine Erinnerung, die seinen Namen flüsterte. Grace' Stimme erklang wirklich an seinem Ohr. Er spürte, wie ihr Atem seinen Hals und die Bartstoppeln kitzelte. „Scorpion." Ihre Hand strich über seinen Rücken und dann schlug er mit einem Mal die Augen auf. Sein Herz pochte wie wild und als er über die Schulter blickte, sah er in Grace' verängstigte Augen. „Was ist los?"

Er schluckte und sah an dem Regal vorbei. Es mussten nur wenige Sekunden vergangen sein, doch für Scorpion fühlte es sich an wie Minuten. Minuten, in denen er in einer Flut aus Bildern und Emotionen hinuntergedrückt wurde. Langsam schüttelte er den Kopf. Dann sah er sich um.

Lass sie zurück. Sie werden dich nur aufhalten. Du alleine kannst es schaffen.
Klick klack.

Scorpion schloss nicht die Augen. Es war wohl der unpassendsten Moment, in dem die Stimme zu ihm kam, doch er war sich nicht sicher, ob er die Beherrschung behalten könnte, sollte er jetzt die Augen schließen und in die Dunkelheit abtauchen. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Risse im Boden. Sah sich die Konturen an und verfolgte einen breiten Riss bis hin zu einem Kistenturm, welcher auf einer Kante stand. Nachdenklich legte Scorpion den Kopf schief, spannte seine Schultern an und ging vorsichtig in die Hocke. Grace nahm langsam ihre Hand von seiner Schulter.

Diese Geste war ihr vertraut. Sie vertraute Scorpion. Vertraute ihm, dass er ihnen aus dieser Situation half. Und Scorpion wollte sie nicht enttäuschen.

Du wirst sie alle verlieren.
Klick klack.

Scorpion griff in seine Manteltasche, zog einen Dolch heraus und wog ihn kurz in seiner Hand, ehe er ihn mit Schwung gegen die Kisten warf. Sie wackelten und Scorpion dachte schon, dass er umsonst Aufmerksamkeit auf die Kartons gezogen hatte, indem der Dolch klirrend auf den Boden fiel, doch dann kippte der Turm um und im nächsten Moment rutschten Bücher vom Tisch, Papiere flogen auseinander und Karten rutschten über den Boden. Scorpions Mundwinkel zuckten. Die Schritte der Gardisten entfernten sich von ihnen, als sie zu dem Ort liefen, an dem sie nur einen Dolch finden würden. Doch bis sie diesen gefunden hatten, würden die White Skulls längst aus dem Fenster gestiegen sein.

Schnell stand er auf, packte Grace an den Schultern und schlich sich mit ihr in geduckter Haltung zur Nische, in der Viper und Gemma noch immer verharrten.

Klick klack.

Scorpion stolperte über eine Kante, streckte seinen Arm aus, griff nach dem Rand eines Regals und stürzte zu Boden. Neben ihm knallte das Regal zu Boden. Grace fuhr herum, Gemma und Viper, die aus der Nische kamen, zuckten zusammen und Scorpion drehte ich blitzschnell auf den Rücken. Der Schein der Lampen, der eben noch von ihnen abgewendet war, richtete sich nun in ihre Richtung. Die Schritte kamen näher und schon im nächsten Moment waren sie von Wachen umzingelt. Laserwaffen richteten sich auf sie und während Scorpion blinzelnd gegen das Licht sah, schob sich ein dunkler Schatten hervor.

Ein recht junger Wachmann mit dunklen Haaren stand vor ihm.

„Ihr seid unerlaubt in den Palast von Elbjen eingedrungen. Macht euch bereit für euren Tod."

White SkullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt