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[GEMMA]

Es war kalt. Ihre Hände schmerzten und ihr Hals brannte, als sie immer und immer wieder den Namen ihre Bruders rief. Immer wieder sah sie Orion vor sich. Wie ihr Zwilling unter der Eisfläche trieb. Wie das Blut aus seiner Brust aufstieg. Wie sie auf die Knie gestürzt ist und mit ihrer Faust die dicke Schicht versuchte zu zerschlagen. Wie sie immer und immer wieder den Namen ihres Bruders murmelte. Wie ihre Tränen auf dem See mit der gefrorenen Fläche zu Eis erstarrten.

Sie spürte, wie die Knochen an ihren Fingern brachen, wie sie splitterten. Und dann spürte sie etwas warmes. Sie sah die Hände an ihren Schultern, die sie nach oben zogen. Spürte, wie sie weggezogen wurde. Der Umriss ihres Bruders verschwamm vor ihren Augen und schluchzend schloss Gemma ihre Augen. Ihr Arm legte sich über die Augen und mit zusammengepressten Lippen versuchte sie die Schluchzer zu unterdrücken.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Gemma holte tief Luft und setzte sich auf. Dann öffnete sich auch schon die Tür. Draußen im Flur war es hell und das Licht fiel in Gemmas dunkles Zimmer. Auf der Schwelle stand ein Schatten und in seiner Hand hielt er eine dampfende Teetasse - Viper. Die Neonröhren an der Decke flackerten kurz und strahlten dann ihr hellblaues Licht aus. Viper dimmte das Licht und Gemma öffnete blinzelnd ihre Augen.

"Ich habe dir Tee gebracht. Du solltest ihn trinken, ehe er kalt wird." Diesen Satz hatte Viper die letzten Tage schon gesagt. Jeden Tag war er in Gemmas Zimmer gekommen. Anfangs hatte er noch zwei Tassen mit. Manchmal sogar heißen Kakao, doch Gemma hat nie etwas getrunken. Ein paar Mal hatte sie genippt, um Viper ein kleines Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Nur, damit er sie nicht mehr mit diesem mitleidigen und verletzten Ausdruck ansah. Sie wollte nicht schwach wirken, obwohl sie wusste, dass es unmöglich war.

Sie nickte und der Mann schloss die Tür hinter sich, ehe er die Tasse auf den Nachttisch stellte und sich neben Gemma auf das Bett setzte. Langsam hob Viper seine Hand in Richtung ihres Gesichts, verharrte jedoch einige Zentimeter davor. "Darf ich?", fragte er zögernd.

Gemma wusste nicht, weshalb er sie um Erlaubnis fragte, doch seit dem Moment in der Höhle, bevor Orion gestorben ist, hatte er sie nicht noch einmal berührt. Jedenfalls nicht auf die Art und Weise, die Gemmas Haut Funken sprühen ließ. Er hatte Distanz bewahrt und sich ihr nicht angenähert. Irgendwie war sie froh darüber. Dankbar, dass er ihr Freiraum gab, doch gleichzeitig wollte sie sich an ihn schmiegen. Ihn in die Arme nehmen, seine Wärme spüren, seinen Duft riechen und nicht mehr loslassen, bis die Bilder von Orion verschwunden waren.

"Ja", murmelte sie deshalb leise. Ihre Stimme war heiser und ihr Hals staubtrocken.

Sanft berührte Vipers Finger Gemmas Schläfe. Fuhren die Wange hinunter, am Kiefer und Kinn entlang und auf der anderen Seite wieder hoch. Seine Hand fuhr durch ihre Haare, ließ einzelne Strähnen durch seine Finger streifen und strich dann sanft an ihrem Hals über ihre Schlüsselbeine. Seine Fingerspitzen tasteten über Haut und genüsslich schloss Gemma ihre Augen. Sie genoss die zarten Berührungen.

"Wie geht es dir?", fragte Viper leise. Seine Hand fuhr ihren Arm hinunter und stoppte an ihrer Hand.

Langsam öffnete sie die Augen. "Ganz gut, denke ich." Viper sah sie direkt an und sie sah auch, dass er ihr nicht glaubte. "Ich will nicht, dass du dir unnötig Sorgen machst", sprach sie und drückte leicht seine Hand.

"Unnötig Sorgen? Verdammt, Gem, ich mache mir Sorgen, ja, aber die sind nicht unnötig." Er rückte näher zu ihr und nun saßen beide im Schneidersitz auf dem Bett. "Ich will, dass es dir gut geht.Und ich mache mir immer Sorgen. Ich frage mich jeden Tag, ob es dir gut geht. So ist das eben, wenn man jemanden liebt." Gemma zuckte kurz zusammen. "Ich kann nichts gegen diese Fürsorglichkeit tun, die mich befallen hat." Er grinste sie an und auch Gemmas Mundwinkel zuckten leicht.

"Orion war auch immer fürsorglich", murmelte sie und blickte auf ihre Beine. "Ich sehe ihn noch genau vor mir. Wie er mich damals verteidigt hatte, wenn die anderen Jungs mich geärgert hatten. Orion hat sich vor mich gestellt und die Arme ausgebreitet." Gemma schluchzte. "Er wusste ganz genau, dass ich mich selber verteidigen konnte. Immerhin habe ich ihn immer und immer wieder geschützt, wenn unser Vater uns schlagen wollte." Viper drückte ihre Hand. Gab ihr zu verstehen, dass er hier war. Dass er auf sie aufpasste. Dass er sie beschützte.

Mit Tränen in den Augen sah Gemma auf. Das braun von Vipers Augen funkelte leicht und Gemma konnte das Licht der Neonröhren sehen, welches sich in ihnen spiegelte. "Ich vermisse ihn so sehr, Viper." Sie verzog das Gesicht und im nächsten Moment lehnte sie sich nach vorne. Ihre Stirn legte sie auf seine Schulter und dann spürte sie nur noch, wie Viper seine Arme um sie legte.

"Ich vermisse ihn auch, Gem. Das tun wir alle."

Minuten verstrichen und Gemma weinte stumm gegen Vipers Schulter. Dann löste sie sich von ihm und drückte seine Hände. "Tut mir leid."

Vipers Brauen zogen sich verwirrt zusammen. Gemma wies auf sein T-Shirt, welches durch ihre Tränen nass geworden ist. "Das muss dir nicht leid tun, Gem." Viper lächelte sie an.

"Tut es aber." Sie rutschte etwas nach hinten, entzog sich seiner Wärme und hoffte, dass ihre Wangen nicht zu rot waren. Als sie an Viper gelehnt hatte, hatte sie seinen Herzschlag gehört. Hatte gehört, wie es stark gegen seine Brust gehämmert hatte. Seine Hände auf ihrem Rücken waren warm und heiß gewesen. Sie wollte ihn nicht loslassen, doch sie wusste, dass sie dieses Verlangen abstellen musste. Sie könnte ihn sonst nie wieder loslassen. Als Viper nun vor ihr saß, das T-Shirt verrutscht, sodass der Ansatz seines linken Schlüsselbeins hervorlugte. Seine Haaren waren noch feucht. Hatte er geduscht? Gemma wusste es nicht und sie wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken, denn Bilder von der Höhle schossen ihr vor Augen.

"Gemma..."

"Du hast gesagt, dass du mich liebst", sagte sie plötzlich. Viper sah sie ernst an. "Stimmt das?" Die Worte kamen nur leise über ihre Lippen. Sie fühlte sich komisch, dass sie fragte, obwohl sie die Antwort wusste. Immerhin hatte es Viper ihr in der Höhle gesagt. Er hatte sie geküsst oder sie ihn. Doch trotzdem ließ sie diese Frage nicht in Ruhe.

"Ja."

Vipers Augen waren dunkel und für einen Moment dachte Gemma, er habe das Licht noch dunkler gestellt, doch der Mann hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Gemma schluckte. Ihre Hände kribbelten und sie spürte, wie sich ihr Körper nach seinen Bewegungen sehnte. Sie wollte seine Hände spüren, wie sie ihr Gesicht abtasteten. Wie er ihre Konturen nachfuhr, durch ihre Haare strich und sie wollte die Wärme seines Körpers auf ihrem spüren.

Plötzlich, als hätte er den gleichen Drang verspürt, schob er sich zu ihr und legte seine Lippen auf ihre. Er küsste sie. Sanft, doch mit erwachendem Feuer. Gemma erwiderte langsam die Bewegungen und zuckte kurz zusammen, als Viper ihre Taille griff und sie zu sich zog, bis sie rittlings auf ihm saß. Langsam fuhr er über ihre Rippen bis zu ihrem Rücken und streifte mit seinen Finger ihr Rückgrat. Gemma seufzte, als er seine Hand unter ihr Oberteil schob. Seine Berührungen kribbelten auf ihrer Haut und der Druck seiner Finger verstärkte sich.

"Du bist so wunderschön", murmelte Viper zwischen den Küssen und entlockte Gemma ein Grinsen. Dann schob er ihr Shirt über den Kopf und warf es zur Seite. Gemma fasst Viper an den Schultern und zog ihn zu sich heran. Sanft striffen ihre Lippen über seine. Sie hatte die Augen geschlossen und fuhr mit ihren Fingern über sein Schlüsselbein. Viper zitterte. Sie spürte, wie stark sein Herz schlug. Mit ihren Fingern fuhr sie über seinen Nacken, strich durch seine Haare und fuhr die Konturen seiner Lippen nach.

Dann beugte sie sich vor und schloss die Lücke. Viper drückte sie an sich. Gemma wurde heiß und dann wieder kalt. Das Blut rauschte in ihren Ohren und als sie Viper das T-Shirt über den Kopf zog und es wegwarf, zuckten beide auseinander, als etwas zu Boden fiel und klirrend zerbrach.

Gemma brauchte einen Moment, ehe sie erkannte, dass die Teetasse nun zerbrochen auf dem Boden lag. Der Tee floss durch die Ritzen und sog den Fellteppich voll. Ihre Hände lagen noch auf Vipers Schultern und ihre Fingerspitzen kribbelten. "Ich glaube, der Tee ist kalt geworden", murmelte sie und sah Viper an. Seine braunen Augen waren beinahe schwarz, doch er grinste sie an. "Den Tee brauchst du jetzt nicht." Dann beugte er sich wieder zu ihr und Gemma verlor sich in den zarten Berührungen, die ihren Körper erzittern ließen. 

White SkullWo Geschichten leben. Entdecke jetzt