Heimat

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Sie konnte nicht tatenlos im Haus sitzen und abwarten, ohne komplett durchzudrehen. Verloren fuhr sie im hellen Mondschein durch die Straßen der Stadt, in der sie vor vielen Jahren ihre Heimat sah. Heimat.

Für Anna schon lange nicht mehr ein Ort auf dieser Welt. Heimat fand sie vor vielen Jahren in einem Gefühl dass ihr der damals sechzehnjährige Paddy schenkte. Das Gefühl von Liebe, Zugehörigkeit und Sicherheit. Dann verlor sie ihre Heimat und zog ohne Halt und Sicherheit durch die Welt. Sie erstickte und betäubte ihre Schmerzen und die brennende Sehnsucht mit Schlafmittel und all den wohlriechenden Pflanzen, die sie rauchte um für kurze Zeit in andere Sphären zu flüchten.

Dass sie jemals wieder annähernd etwas Ähnliches empfangen und fühlen würde, wie sie für Paddy empfand, war für Anna nahezu unmöglich. Zu einzigartig, zu groß und mächtig waren ihre Gefühle, die auch noch lange nach der Trennung in ihr lebten. Gefühle, die sie hegte und pflegte wie eine kostbar seltene Blume.

Das Gefühl von Heimat verspürte sie erst wieder, als in ihr neues Leben wuchs und sie die Heimat zweier wundervoller Kinder wurde. Anders als einst bei Paddy, war diese Heimat für die Ewigkeit. Die Liebe zu ihren Kindern war tief, unerschütterlich und mit nichts und niemanden zu ersetzen.

Sie hörte diese eine bestimmte Playlist rauf und runter. Lieder, die sie ablenken sollten. Lieder, die sie weder an Paddy noch an ihren Mann erinnerten. Lieder, die sie in der Zeit hörte, als sie alleine in die Welt zog. Eines dieser Lieder ließ sie zum großen Vollmond hinaufblicken. Anna erinnerte sich an diese schwere Zeit in der Ferne. Und doch verband sie dieses Lied unbewusst mit Paddy. Damals, als sie sich nicht nur einmal wünschte, den nächsten Tag nicht erleben zu müssen.

Heute,
Tag des Mondes,
Tag der Traurigkeit.

Ich wache auf
und ich will nicht.
Ich wache ohne Sinn auf.
Ich wache auf und
ich komme nicht an.

Heute.
Tag des Mondes.
Tag der Traurigkeit.


Hoy dia luna...dia pena
Manu Chao


Als ihr Handy auf dem Beifahrersitz vibrierte setze ihr Herzschlag für einen Moment aus. Paddy meldete sich, einigen Stunden nach seiner letzten Nachricht bei Anna und bat sie ins Hotel zu kommen. Er schickte ihr seine Zimmernummer und schrieb, sie solle sich beeilen. Keine Information über den Verlauf des Gesprächs. Kein beruhigendes Wort, dass alles in Ordnung sei und sie sich nicht sorgen solle.

Die grellen Leuchtstoffröhren an den Decken flimmerten nervös aber kontinuierlich. Anna mied den Fahrstuhl und rannte, als wäre ihr Jemand gefährliches auf den Fersen, die unzähligen Stufen durch das Treppenhaus hinauf. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde, als sie atemlos und mit klopfendem Herzen im fünften Stockwerk des Hotels ankam.

Zwei sturzbetrunkene Männer, die mit blutigen Gesichtern auf dem Hotelboden saßen? Paddy, der mit geschwollenem Gesicht wartete und seine Platzwunden mit einem Beutel Eis kühlte? Ihr Mann, der regungslos auf dem Boden lag?

Schneller als erwartet, öffnete ihr Paddy mit zerzaustem Haar und müden Augen, nachdem sie zaghaft an die Tür geklopft hatte. Das gedimmte Licht tauchte das Hotelzimmer in warme Farben. Liebevoll zog Paddy sie ins Zimmer und schloss die Türe leise hinter sich. Anna blieb nah vor ihm stehen und betrachtete sein immer noch zart wirkendes Gesicht. Sie nahm es in ihre Hände, drehte es vorsichtig von rechts nach links, als schien sie ihn zu begutachten. Es waren keine Spuren eines Kampfes zu erkennen. Sie roch seinen, in Alkohol getränkten Atem, den er wohl zuvor versucht hatte mit intensivem Zähneputzen zu beseitigen.

So tief und weit wie das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt