Segen

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Betroffen trat sie leise von einem Fuß auf den anderen und bewegte damit die losen Kieselsteinchen. Ihre Hände suchten Wärme in den tiefen Taschen ihres schwarzen Mantels. Der eisige Wind durchkämmte ihr offenes Haar. Die kalten Finger ertasteten Sandkörner und ein paar Muscheln von den letzten Tagen in Andalusien, die sich am Boden ihrer Manteltaschen ansammelten. Ihre Fingerspitzen glitten über die Rillen der Muscheln. Dieses Gefühl beruhigte ihre aufgewühlte Seele. Sie schloss kurz die Augen und dachte an das Meer, von dem sie gestern Abend Abschied nahm. Ein kurzer Zwischenstopp. Schon am nächsten Morgen würden sie zurück nach Deutschland fliegen und gemeinsam Weihnachten feiern.

Er stand nur wenige Schritte schweigend von ihr entfernt. Mit gefalteten Händen richtete er immer wieder seinen Blick zum Himmel hinauf. 

Sie konnte nur erahnen, wie er sich fühlte

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Sie konnte nur erahnen, wie er sich fühlte. Und das alleine verursachte einen unbeschreiblich tiefen Schmerz. Der alleinige Gedanke an die Szenen, die sich hier abgespielt haben mussten, ließen ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Ihr Herz lag schwer in ihrer Brust, der Atem war ungleichmäßig. Sie wollte etwas sagen, ihn berühren und tröstend in die Arme schließen. Doch Anna blieb wie angewurzelt stehen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier waren, sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. 

Paddy ging in die Knie und senkte den Kopf. Seine Hand streichelte zärtlich über die graue kalte Steinplatte. Leise Worte, die Anna kaum hören, nur erahnen konnte, glitten über seine Lippen. Ein Gebet, ein Geständnis, eine Entschuldigung, eine Bitte um Vergebung oder auch eine Liebeserklärung. Alles wäre passend gewesen, nichts sollte unausgesprochen bleiben.

Annas Finger umschlossen das kleine Kreuz an ihrer Kette. Der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer. Ein Räuspern, ein Husten, jede akustische Regung von ihr hätte diesen besonderen Moment zerstören können. Sie zog den Schal über den Mund, schluckte schwer und atmete dann die kühle Luft durch den geöffneten Mund ein. Die Kälte rann ihren Kehlkopf hinunter und wirkte abschwellend. Zumindest bildete Anna sich diese Wirkung ein.

Paddy ging einige Schritte auf sie zu und streckte ihr seine Hand entgegen.
Wortlos griff sie nach ihr und ließ sich im langsamen Tempo von Paddy führen. Als sie an der Stelle stehen blieben, wo er einige Momente zuvor noch gekniet hatte, zog er sie in seine Arme. Annas Augen erforschten den Stein, die Spuren der Vergangenheit, die kleinen Erinnerungen festgehalten in Beton. Ein paar wenige karge Blümchen, eine heruntergebrannte Kerze. Das Kreuz aus Stein. Sie schloss die Augen und presste die Lippen zusammen um ihre Tränen zu unterdrücken. Sie folgte Paddy an diesen Ort, weil es ihm am Herzen lag. Ganz behutsam ging sie schon damals als Teenager mit diesem fragilen Thema um. Nie hätte sie Paddy mit einer unbedachten Frage verletzten wollen. Sie spürte damals den Schmerz der Familie in seltenen ruhigen Momenten. Wenn sie zusammen saßen und von ihrer Vergangenheit erzählt hatten. Sie erinnerte sich an ihren Gefühlsausbruch, als ihr Paddy damals auf dem Hausboot das erste Mal An Angel vorgesungen hatte und ihre Tränen unaufhaltsam über die Wangen rollten. Die große, tiefe Liebe und Sehnsucht nach seiner Mutter brach ihr damals das Herz.
Der Schmerz war allgegenwärtig und würde wahrscheinlich nie vergehen. Der Schmerz ließ sich nicht heilen, nur lindern.

So tief und weit wie das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt