Vergangenheit
♾♾♾♾♾Sie stand schon eine Weile am Kaffeevollautomaten und hielt sich an ihrem Milchkaffee fest, während sie Jorge zuhörte, der über sein ausgeklügeltes Sportprogramm philosophierte.
Sie merkte, wie sie mit jeder Minute schlechtere Laune bekam, nicht zuletzt, weil sie dachte es sollte hier Wein geben. Kaffee würde ihr nicht helfen das durchzustehen.
„Immer in dreier Intervallen, verstehst du? Nur so ist es effektiv", durchbrach seine Stimme erneut ihre Gedanken. Mechanisch nickte sie. Mehr brauchte es nicht um den großen, hageren Mann am Reden zu halten und es war ihr nur recht, dass er sich gern reden hörte. Seinen Namen hatte sie sofort nach der Nennung wieder vergessen und auch sein Gerede rauschte mehr oder weniger ungehört an ihr vorbei.Es war ihr wirklich nicht danach sich mitzuteilen. Oder erneut auf die Frage nach ihrem Befinden tapfer zu lächeln und zu lügen. Es wollte ja sowieso keiner hören, wie es ihr wirklich ging.
Gelangweilt sah sie im Raum umher, während der sportbegeisterte Mann sie weiterhin belehrte. Viele Personen waren noch nicht da. Hier und da standen einige Gruppen zusammen und sprachen verhalten miteinander. Am Fenster saß eine Frau mittleren Alters und las in einem Buch. Das musste sie sich für das nächste Mal merken. Man musste also keinen Smalltalk betreiben, bis es losging.Für Noemi nach einer gefühlten Ewigkeit setzten sich die Anwesenden in die Stuhlreihen. Es war deutlich voller geworden, so dass sie so um die fünfundzwanzig Personen waren. Manche saßen zu zweit, andere blieben für sich. Sie vertröstete den hageren Intervall-Sportler und ging in die letzte, der zehn Stuhlreihen, obwohl nicht alle Plätze besetzt waren. Sie war neu hier, ein Platz weit vorne musste da nicht sein.
Grinsend senkte sie den Kopf. Das erinnerte sie an ihre Schulzeit mit Tristan. Immer in der letzten Reihe. Immer nebeneinander. Erst bei der Kurswahl in der Oberstufe saßen sie in vier Kursen getrennt voneinander. Aber er hatte ihr immer aus seinen Kursen heraus geschrieben und es irgendwie auch geschafft sie in achtzig Prozent der Fälle vom Raum abzuholen.
Heiße Tränen schossen in ihre Augen, die sie nur mühsam daran hindern konnte, dass sie herauskullerten. Nicht anfangen. Bloß. Nicht. An. Ihn. Denken. Er hatte sie verlassen. Ohne Vorwarnung. Und jetzt saß sie hier alleine in der letzten Reihe.
Als ein Mann den Raum betrat und die Tür hinter ihm laut krachend ins Schloss fiel, drehten sich alle zu ihm um.
Ja, er war fast zu spät und verursachte Lärm, aber das war nicht der Grund, warum ihn alle anstarrten und zwei Damen tatsächlich anfingen miteinander zu flüstern: der Kerl war einfach ein Gott; er war über zwei Meter groß, seine dunkelblonden Haare fielen ihm verwegen in seine Stirn, der Dreitagebart gab seinem Gesicht etwas Gelassenes und gleichzeitig Wildes. Das enge schwarze Shirt betonte seinen muskulösen Körper und gab den Blick auf durchtrainierte Arme frei - er war wirklich ein attraktiver Mann. Heiß. Typ Wikinger. Direkt dachte sie daran, dass er perfekt zu ihrer Schwester Agnes passen würde.
Sie erschrak augenblicklich über ihre eigenen Gedanken. Er war aus demselben Grund hier wie sie. Das war keine Partnerbörse. Gott verdammt. Sie musste sich am Riemen reißen.Als der Mann entschuldigend lächelte, hörte sie die Damen der ersten Reihe seufzen. Beinah hätte sie laut aufgelacht. Das nannte sie wirklich unangemessen.
„Ist neben dir noch frei?" Sie hatte sich so auf die beiden Frauen in der ersten Reihe konzentriert, dass sie ihn erst wahrnahm, als er neben ihr stand und auf den Stuhl zu ihrer Linken zeigte, während er sie vorsichtig an der Schulter berührte. Seine Stimme war tief und hatte einen warmen, vollen Klang. Insgesamt ganz klar angenehmer als James oder George vorhin. Vor allem auch weniger aufdringlich.
Sie nickte und ließ ihn an sich vorbei in die Stuhlreihe gehen. Angenehm kitzelte sein Aftershave ihre Nase. Er sah sie noch einmal lächelnd an und blickte dann nach vorne.„Ich bin Aaron." Er überraschte sich selbst und wusste selbst nicht genau wieso er ihr seinen Namen zuflüsterte, aber er war nervös und bereute es an diesem Ort zu sein. Seine Assistentin Evelina hatte heute gleich mehrere Termine doppelt gebucht und sein Tag war noch stressiger als sonst gewesen. Morgen würde er ihr den Kopf waschen. Jetzt musste er das hier trotzdem hinter sich bringen.
„Ich bin Noemi."
Sie flüstert so leise, dass er ihre Stimmfarbe nicht erkennen konnte. Er musterte sie relativ unverhohlen. Zum einen, weil er grad nichts anderes tun konnte, zum anderen, weil er neugierig war. Sie war sehr hübsch, blond, schlank, mit Kurven an den richtigen Stellen. Ihre langen Beine wurden durch die enge Jeans betont. Auf ihrer weich fallenden, weißen Bluse lag eine dünne goldene Kette mit einem Anhänger in Form eines Baums. Sie trug kein Schwarz. Ungewöhnlich. Angenehm.Gedankenverloren spielte sie mit einer Strähne ihres blonden, langen Haares. Er würde gern reden. Die Stille nervte ihn. Also sagte er genau das. Sie schien überrascht, denn sie guckte ihn aus ihren großen graublauen Augen einen Moment lang unschlüssig an. Die Farbe war ungewöhnlich. Fesselnd. Seltsam. Dann lächelte sie.
„Du wurdest hergeschickt, Aaron, oder? Ich auch." Sie flüsterte, versuchte sehr deutlich nicht zu laut zu sprechen und andere an ihrer Unterhaltung teilhaben zu lassen.
„Ja, mein Bruder fand das hier sei ‚genau das richtige' für mich."
Sie schmunzelte. „Und? Ist es das?"
„Gott, nein. Ich wollte bloß, dass er aufhört zu reden." Sie lachte leise, schlug sich dann aber die Hand vor den Mund. Gelacht wurde nicht mehr.Angestrengt sah sie wieder nach vorn, als sich die Tür öffnete und die Gastgeberin hereintrat. Sie musste um die Fünfzig sein, ihre roten Locken standen in alle Richtungen ab und ihre Kleidung fiel locker um ihre fülligere Figur. Sie trat vor die Gruppe und forderte sie erst einmal auf die Stuhlreihen in einen Sitzkreis umzustellen.
„Nicht. Ihr. Ernst." Aaron schmunzelte, als er Noemis Flüstern hörte.
„Du könntest einfach in Ohnmacht fallen und ich bringe dich nach Hause." Sie sah ihn an, während sie ihren Stuhl hochhob. Er konnte genau sehen, dass sie ernsthaft über seinen Vorschlag nachdachte.
Dann seufzte sie zu seiner Enttäuschung und trug den Stuhl in den Kreis. Aaron stapelte gleich mehrere leere Stühle und stellte sie an den Rand.Zurück im Kreis musste er feststellen, dass neben Noemi kein Platz frei war, aber dafür zwischen der Gastgeberin und einer weiteren Frau mit mausbraunen Haaren und einem schwarzen Kleid, die ihn unverhohlen anstarrte.
Unsicher suchte er Noemis Blick, weil er überfordert war. Wenn er das seinem Bruder erzählen würde, würde er ihm das niemals glauben: er leitete ein großes Bauunternehmen, war für mehrere tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuständig - aber er brauchte das aufmunternde Lächeln einer Fremden, um sich in einen Stuhlkreis zu setzen.
Sie enttäuschte ihn nicht und lächelte ihn an.
Nachdem er sich endlich gesetzt hatte, war die Gastgeberin zufrieden und bereit den Abend endlich zu beginnen.
„Guten Abend, meine Lieben."
Alle murmelten den Gruß mal laut, mal leise zurück. Nur Johanns oder Jonas' „Moin" fiel aus dem Rahmen, was ihre Gastgeberin jedoch nicht beirrte. „Für diejenigen, die mich noch nicht kennen: mein Name ist Angelique Dunbutton- Prescott. Ich weiß, wie schwer es vielen von euch gefallen sein muss heute hierher zu kommen. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Deshalb gratuliere ich euch zu eurem Mut und heiße euch alle herzlich Willkommen zum „Wein"-Abend für junge Verwitwete."
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L(i)eben ohne dich
RomanceZwei Partnerschaften, beide vollkommen auf ihre Art, die dennoch ungleicher nicht sein könnten und ein Ereignis, was ihrer aller Leben unwiderruflich auf die eine oder andere Weise enden lässt. In dieser Story verbergen sich gleich drei Liebesgesch...