25. „Not About Angels" (Noemi)

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Vergangenheit
♾♾♾

Freundlich Lächeln. Nicken. Kopfschütteln. Stirnrunzeln. „Danke" und „bitte" sagen, das Wasser trinken, was Agnes ihr in regelmäßigen Abständen vor die Nase hielt, Umarmungen ausweichen. Stehen, sitzen, laufen, blinzeln. Ihr Hände kneteten konstant den Stoff des schwarzen Kleides, wenn ihr nicht mal wieder jemand etwas zu Essen aufzwang.
Erneut stellte sie den Teller mit Lasagne, den ihr jemand fürsorglich gereicht hatte, irgendwo ab.

***

„Würden Sie uns einmal ihre Personalien bestätigen?" Die beiden Beamten vor ihrer Tür sahen sie so mitleidig an, dass sie hätte ahnen müssen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
„Noemi Catherine Torres, geborene White." Ihre Antwort kam automatisch, sie hinterfragte die Bitte der jungen Uniformierten nicht;
sie war überhaupt nicht in der Lage rechtzeitig zu schalten, ihr Gehirn sprang einfach nicht früh genug an, um die Wucht der Information abzubremsen, abzufedern, ihr Herz irgendwie vorzubereiten.

„Mrs Torres, wir müssen ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann, Tristan Julien Torres vermutlich zu den Opfern des Unglücks bei Salinas gehört."

Sie sah dem blonden Mann vor ihr an, wie sehr er litt, weil er ihr diese Nachricht überbringen musste. Ihr war nicht klar, warum. Warum litt er? Kannte er Tristan? Oder musste sie jetzt fragen: Hatte er Tristan gekannt?

„Bitte kommen sie in den nächsten vier Tagen zu der folgenden Adresse." Der untersetzte, stämmige Mann, der nervös ein Klemmbrett in den Händen drehte, reichte ihr eine kleine Karte. Sie warf nicht einmal einen Blick darauf.
Er setzte nach. „Wenn sie nach 5 Tagen nicht dort waren, um die Leiche zu identifizieren und zu beanspruchen, wird es kompliziert."

***
Geht weg. Geht dich endlich alle weg. Lasst mich allein. Die anschwellende Geräuschkulisse in allen Räumen ihres Hauses tötete ihren letzten Nerv. Sie redeten und redeten. Niemand hielt einfach mal die Klappe.
Noemis Kopf dröhnte, pochend hämmerte sich die Einsamkeit in sie hinein. Wenn alle gegangen wären, wäre sie allein. Sie wollten  ihr beistehen. Rational wusste sie das.
„Ich will sie nicht, sie sollen weggehen." Ihr Flüstern war leise genug, damit niemand sie hörte.

***

Agnes war mit ihr und Taio in die Leichenhalle gefahren. Sie war es gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass sie die Leiche Tristans überführen konnten. Sie hatte Noemi und Taio gezwungen zu essen, zu trinken, aufzustehen; hatte all die Formalia der Planung der Beerdigung übernommen. Weder Tristans Schwestern, noch seine Eltern waren dazu in der Lage gewesen. Sie alle waren geschockt. Gelähmt. Schatten ihrer selbst, die funktionierten, aber nicht lebten. Noemi, Taio, Aria, Alana und Amelie waren in das Haus der Torres' gezogen. Sie schliefen gemeinsam in den alten Kinderzimmern. Suchten Trost beieinander. Niemand wollte alleine sein. Niemand Noemi alleine lassen.

Am Vorabend der Beerdigung offenbarte sich jedoch wieder die andere Seite der Familie ihres toten Mannes. Als sie im Wohnzimmer saßen und auf den Knien dicke Fotoalben balancierten, sprach Sofia aus, was ihr durch den Kopf ging, während sie über ein altes Foto von Tristan strich, auf dem er grinsend wie in Honigkuchenpferd in einer Wäschewanne voll Wasser saß und ein Eis lutschte. „Uns bleibt nichts von ihm, nicht einmal Enkelkinder sind mir geblieben, in denen ich sein Lächeln hätte wiedersehen können."

Als Noemi den Vorwurf - und nichts anderes war diese Aussage - ihrer Schwiegermutter hörte, verließ sie leise das Wohnzimmer und fuhr zurück in ihr Haus.

Zum ersten Mal seit Tristans Tod lag sie in ihrem gemeinsamen Bett, doch schlafen konnte sie nicht.

***

„Schätzchen", greinte ihre gute Freundin Barbara und umarmte sie überschwänglich. Noemi ließ diese, wie schon alle anderen Umarmungen über sich ergehen. Die viel zu hohe Stimme der Frau war die reine Folter für ihren schmerzenden Kopf, die Aufdringlichkeit und Penetranz strapazieren ihre ohnehin zum Zerreißen gespannten Nerven. Es fehlte nicht mehr viel und sie würde laut schreiend zusammenbrechen.

Gerade als Noemi den Mund zu einem lautlosen Schrei öffnen wollte, rief Barbara den Namen von Tristans Zwilling, als ob die beiden sich tatsächlich kennen würden. Dabei hatten sie kaum je mehr als eine höfliche Begrüßung ausgetauscht. „Taio." Sie schloss ihn in ihre Arme und hielt ihn fest. Völlig überfordert mit der körperlichen Nähe der fremden Frau, sah Taio hilfesuchend zu ihr.
„Barbara, bitte lass Taio los, er möchte nicht umarmt werden." Während Taio sich an einem dankbaren Lächeln versuchte, hätte der Blick Barbaras sie beinah zu ihrem Tristan geschickt.

***

Am Morgen der Beerdigung war sie die Treppe hinunter gestolpert, völlig übernächtigt, ängstlich was der Tag bringen würde. Was sie noch würde aushalten müssen.
Als sie Taio in der Küche stehen sah, verzweifelt bemüht die Kaffeemaschine um das schwarze Gold zu erleichtern - aber scheiternd an den nicht auffindbaren Filtern - setzte Noemis dummes, dummes, dummes Herz für einen Augenblick aus. Für einen winzigen Moment hatte sie sich der Illusion hingegeben, dass es Tristan war, der dort stand. Und obwohl die beiden Männer einander so ähnlich sahen, dass Freunde und Bekannte sie nicht auseinanderhalten konnten, wenn Taio einen guten Tag hatte, waren für sie die Unterschiede himmelschreiend offensichtlich. Taio bewegte sich bedächtiger, überlegter. Ihr Tristan war selbstbewusster gewesen und deshalb oftmals ungestüm. Mit dem Wissen, dass immer alles gut werden würde, strahlte er eine Selbstsicherheit aus, die fast schon an Arroganz grenzte. Währenddessen war Taio ruhiger, abschätzender, was der Tag oder das Leben für ihn bereithielten. Deshalb hatte sie gewusst, dass es Taio war, der in ihrer Küche stand und nicht Tristan. Ihr Herz hatte aber trotzdem für einen Augenblick gehofft.

***

Ihr sonst so scharfer Blick war zu einer Milchglasscheibe geworden, als sie die letzten Gäste endlich aus dem Haus verabschiedet hatte. Selbst Agnes hatte sie weggeschickt. Aufräumen konnte sie morgen. Übermorgen. Irgendwann.
Seufzend sank sie an der geschlossenen Tür herab, bis sie auf dem kalten Steinfußboden saß.
Es war doch alles klar gewesen. Es war doch alles geregelt. Gemeinsam alt werden, irgendwann kurz nacheinander sterben. Wollen das nicht alle so mit ihrem Partner erleben?
Jetzt war der einzige Mann, den sie je geliebt hatte tot. Plötzlich. Ohne Vorwarnung. Ohne Abschied.
Langsam ließ sie ihren Oberkörper auf die Steine sinken und ließ die heißen Tränen endlich frei über ihre kalten Wangen fließen.

Niemand nahm sie in den Arm,
niemand warf mit leeren Worthülsen um sich;
niemand versuchte ihr weiszumachen, dass die Zeit alle Wunden heilen könne, dass alles wieder gut werden würde.

Niemand versuchte sie zu trösten,
niemand redete ihren Schmerz klein;
niemand versuchte ihr weiszumachen, dass man verstehen könnte wie sie sich fühlte, dass man Trauer überwinden könne, dass die Welt bald wieder besser aussähe.

Niemand erwartete etwas von ihr,
niemand beobachtete jede ihrer Handlungen, ihre Mimik, ihre Gesten;
niemand stülpte ihr die eigene Vorstellung davon über, wie sie zu trauern hätte, wie trauern richtig funktioniere, wie und vor allem wann sie genug getrauert hätte.

Den Punkt der allumfassenden Erschöpfung hatte sie längst weit überschritten, deshalb schlief sie auf den kalten Steinen ein und niemand störte ihren Schlaf.

L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt