24. „How Far I'll Go" (Aaron & Noemi)

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Gegenwart
♾♾♾

Das werden wir noch sehen."

Seine unüberlegt in den Raum geworfenen Worte halten noch in seinem Kopf nach. Er war ein Idiot. Und das nicht nur, weil das die letzten Worte gewesen waren, die zwischen ihm und Noemi gefallen waren.

Er konnte es auch einfach nicht fassen, dass dieser dämliche Cousin von Jack wie Kaugummi unter Schuhen mit tiefem Profil an Noemi klebte. Ätzend. Und er hatte keine Kondome dabei, was Noemi und ihn unbefriedigt gelassen hatte - ein Türöffner für den anderen Mann.

Als er zurück ins Zimmer gekommen war, hatte er einen lockeren Spruch bringen wollen. Keinesfalls hatte er daher kommen wollen, wie der Neandertaler für den Noemi ihn nun halten musste. Aber aus irgendeinem Grund waren ihm die Sicherungen auf dem Weg vom Speisesaal ins Zimmer durchgebrannt, während er die Treppen nach oben stieg, die grässlichen Stimmen der gehässigen Klatschtanten im Ohr.

Das Lästigste war, dass er dank des Blumen-Debakels auch unmittelbar vor der Trauung noch beim Brautpaar sein musste und nicht bei Noemi sein konnte. Und er könnte schwören - nackend in die Hand - dass Marlon diese Gelegenheit nutzen und seinem Mädchen auf die Pelle rücken würde.

Er raufte sich die Haare, während er Jack dabei zuhörte, wie dieser beruhigend auf seine Frau einredete, die im Bademantel vor ihm saß und den falschen Brautstrauß nun als Omen betrachtete. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, denn er verstand weder den Wirbel um den Strauß, noch die Gedanken an ein mögliches Omen, denn die beiden waren schließlich bereits verheiratet.

***

Noemi saß in der kleinen, wunderschön mit Sukkulenten- Arrangements und dicken weißen Kerzen geschmückten, knapp 200 Jahre alten Kapelle. Nach ihrem - mehr als unnötigen Streit - hatte Aaron schnell geduscht, sich in seinen Smoking geworfen und war nach einem halben Dutzend Anrufen von Jack wieder hinaus gehastet.
Nun war sie sich nicht sicher, ob es gut oder schlecht war, dass sie keine Möglichkeit gehabt hatten das Thema weiter auszudiskutieren.

Marlon hatte sie abgeholt und gemeinsam waren sie zu der kleinen Kapelle gefahren. Sofort bei ihrer Ankunft hatte sie die Gesichter der unzufriedenen Hexen erblickt, die sie abschätzig, erbost und wahlweise auch wütend anstarrten. Dank Marlons lustiger Art hatte sie ihnen aber wenig Beachtung geschenkt und sich voll und ganz auf Marlon konzentriert.
Dieser flüsterte nun nah an ihrem Ohr, womit er sie aus ihren Gedanken riss: „Gibt es etwas, von dem du schon lange träumst es zu tun?" Sein warmer Atem verursachte ihr eine Gänsehaut und sie musste sich konzentrieren, um die Antwort auf seine Frage zu finden. Gab es das? Hatte es nach Tristan je etwas gegeben, von dem sie geträumt hatte? Alle ihre Träume waren gemeinsame Träume gewesen. Kitschig? Vielleicht. Alle ihre Träume waren mit Tristan gestorben.
Sie hatten gemeinsam die Welt bereisen und eine Familie gründen wollen. Mit keinem anderen wollte sie das teilen.

Die gehässige kleine Kröte von innerer Stimme legte sich lachend auf den Boden und brabbelte immer wieder Aarons Namen.
Um sie zum Verstummen zu bringen, redete sie tatsächlich über einen Teil ihrer Träume. „Ich würde gern jeden Kontinent der Erde bereisen."

„Warum hast du es noch nicht getan?" Seine Hände massierten mit sanftem Druck ihren verspannten Nacken.

„Es war nicht alleine mein Traum."

Marlon nickte, er wusste, dass sie Witwe war. „Verwirkliche den Traum für deinen Mann. Aber du brauchst dann außerdem noch einen eigenen Traum."

Sie nickte und antwortete nach einigem Überlegen. „Ich möchte einen Motorrad Führerschein machen." Tristan war immer gegen das Fahren eines Motorrades gewesen, weil seine Cousine nach einem Unfall mit multiplen Brüche dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen war.

Marlon zog unauffällig - schließlich saßen sie in einem Gotteshaus - sein Smartphone aus der Tasche und tippte eine Nachricht. Wenige Augenblicke später steckte er es grinsend wieder ein.
„Was machst du nächstes Wochenende?"

Noemi zuckte mit den Schultern.

„Du wirst deine erste Stunde auf dem Motorrad absolvieren." Sein Grinsen vertiefte sich bei seinen Worten deutlich, während Noemi ihn mit großen Augen ansah. „Ein Freund ist Fahrlehrer - er hat nächstes Wochenende Zeit für dich, was sagst du?"

Tatsächlich antwortete sie nichts, denn in diesem Moment kam Aaron und ließ sich erschöpft neben sie fallen. Sanft umschloss seine warme Hand die ihre.
Da dies weder der richtige Ort, noch der richtige Augenblick war, um sein Neandertaler-Ich anzusprechen, lächelte Noemi ihm flüchtig zu und richtete ihren Blick anschließend auf den Mittelgang, denn die Orgel erscholl laut und um absolute Aufmerksamkeit heischend.

Während der langen und leider wenig mitreißenden Predigt des Geistlichen schweiften Noemis Gedanken immer wieder ab. Zwischen Marlon und Aaron zu sitzen, während der eine ihre Hand streichelte und der andere dieses Verhalten amüsiert beobachtete, machte es nicht besser und sie hätte fast alles für ein wenig Abstand von beiden gegeben.
Dröhnend verschafften sich wenig erfreuliche Fragen Raum in ihrem Kopf. Sollte sie nicht erstmal wieder daten, bevor sie sich auf einen neuen Mann einließ? Den zweiten Mann überhaupt in ihrem Leben? Sollte sie nicht mal von mehreren Früchten kosten? Frösche küssen? Dinge lernen? Konnte überhaupt je jemand Tristan ersetzen? Sollte sie die Freundschaft mit Aaron riskieren? Konnte Aaron ihr neuer Tristan sein?
Sie waren beide kaputt, beide zerbrochen, beide geflickt. Konnte man das einem anderen Menschen antun? Oder musste man egoistisch sein und sich einen heilen Menschen suchen, damit man überhaupt je die Chance hatte wieder zusammenzuwachsen? War das ungerecht?  Wie konnte sie überhaupt über Marlon nachdenken, nach dem was gestern Nacht mit Aaron passiert war? Oder konnte sie darüber nachdenken, weil das mit Aaron Entbehrung war und keine emotionale Bindung? Wie zur Hölle bekam man eine Pause von seinem Kopf?

Mechanisch applaudierte sie, als alle den Kuss des Brautpaares bejubelten. Sofort dachte sie an Tristan und ihr Versprechen. Sie konnte nicht verhindern, dass Tränen ihre Augen fluteten.

Aaron überfielen die Erinnerungen an seine tote Frau ungefragt und ungeplant. Er war sich so sicher gewesen, dass er Theresa ordentlich in einer Truhe in seinem Kopf abgelegt hatte, dass es umso schmerzhafter war daran erinnert zu werden, was für eine Frau er mit ihr verloren hatte.

L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt