32. „Loyal, Brave, True" (Noemi)

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Vergangenheit
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„Verbannst du irgendwann auch uns aus deinem Leben?" Noemi schrak auf, als die dunkle Stimme die Stille des Raumes durchschnitt. Für einen Augenblick wusste sie nicht wo sie war, suchte die Finsternis mit vom Schlaf verklebten Augen ab, bemühte sich das kleine rote Licht seitlich von ihr zu identifizieren. Fernseher.
Gleichzeitig gaben sich ihre Ohren alle Mühe ihre Umgebung zuzuordnen, aber sie hörte nichts als ihren eigenen Atem und den Atem des Mannes neben ihr. Erst als die warmen Beine wegrutschten und er sich aufsetzte, drang langsam in ihr Bewusstsein wo sie war. Mit wem sie zusammen war.
Sie ärgerte sich, dass sie eingeschlafen war, denn ihr Rücken verzieh ihr Nächte auf der Couch nicht mehr so gnädig wie noch mit Anfang Zwanzig.

Wie spät es wohl war? Noemi streckte sich, um vielleicht zu verhindern, dass ihr Rücken sie die nächsten Tage abstrafen würde, dann bemerkte sie die Anspannung des Körpers vor ihr. Was hatte sie verpasst?

„Hast du was gesagt?", ihr Flüstern durchbrach die Stille und obwohl sie wusste, dass sie allein waren, kam ihr ihre Stimme zu laut und störend vor.

„Verbannst du irgendwann auch uns aus deinem Leben?", fragte er erneut. So wie es fast typisch für Taio war, hörte man ihm keinerlei Emotion an, eher klang er wie ein Professor, der seiner Studentin eine Frage stellte um diese abzuhaken und zur nächsten überzugehen.
Noemi gähnte. Es musste längst weit nach Mitternacht sein, denn das letzte Mal, als sie auf die Uhr  gesehen hatte, bevor der Schlaf sie übermannte, war es etwa kurz vor Elf gewesen. Sie hatten sie ganze erste Staffel von The Last Kingdom in einem Rutsch schauen wollen. Satz mit x.
Mühselig entwirrte sie ihre Beine aus den Decken, die Taio fürsorglich über sie beide gebreitet hatte und setzte sich auf. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel und sie konnte die Umrisse von Tristans Zwilling ausmachen.

„Wie kommst du darauf, Taio?", fragte sie im Gegenzug, während ihre Hand über die weichen Decken strich und nach seiner suchte.

„Du hast ein neues Leben angefangen und systematisch alles geändert oder gestrichen, was dich an dein Leben mit Tristan erinnert hat", antwortete er und listete schließlich konkret auf, was er meinte, denn sie hatte nicht nur ihre Arbeitsstelle und ihren Wohnsitz gewechselt, alle Möbel und das Auto ausgetauscht, sondern auch ihr Fitnessstudio, die Geschäfte, in denen sie normalerweise einkaufen ging und selbst ihre Gewohnheiten so umfassend ausgetauscht und abgelegt, dass Taio nun Angst hatte, dass sie auch ihn aus ihrem Leben streichen würde.

Noemi seufzte. „Du weißt, dass ich nur eine neue Stelle angenommen habe, weil die letzte Firma meine lange Abwesenheit nicht länger dulden konnte; das Haus war für mich alleine viel zu groß - und ja, die Erinnerungen waren auch zuviel -  jetzt wohne ich viel näher an meiner Stelle; Fitnessstudio und Supermarkt liegen auf dem Weg." Sie seufzte und spürte schon wieder die elendigen Tränen, die an der Oberfläche kratzten und nur darauf warteten hervorzuquellen und sie wieder zu ertränken. Natürlich waren ihr all die Veränderungen entgegen gekommen und sie hatte wirklich nichts dagegen, dass sie so wenig wie möglich an Tristan und all das, was sie gehabt hatten oder sie sich gewünscht hatte mit ihm gehabt zu haben, erinnert wurde. „Niemals", sie schluckte hart, „niemals würde ich auf dich in meinem Leben verzichten wollen."

„Ich sehe aus wie Tristan und immer wenn du mich siehst, tut es weh." Er wusste, dass es so war. Manchmal hatte sie in in den letzten Monaten Tristan genannt oder war zusammengezuckt, wenn sie ihn angesehen hatte. Vielleicht hatte sie geglaubt, dass er es nicht gesehen hatte, aber er sah so viel, was andere nicht sehen wollten. Er wusste zwar nicht immer, was das bedeutete was er sah. Aber er sah es.

„Es tut mir leid, Taio." Noemi horchte in sich hinein. Seit Tristans Tod war sie immer wieder von einer Welle von Schmerz überrollt worden, sobald sie an ihn dachte. Natürlich hatte sie viel geändert - absichtlich und unabsichtlich - aber sie würde doch niemals die einzige Person aus ihrem Leben streichen, die außer Tristan immer an ihrer Seite gewesen war.
Fest umschlang sie seine Hand. „Es tut mir leid, Taio. Niemals wollte ich dir das Gefühl geben, dass ich alles, was mit Tristan zu tun hat aus meinem Leben verbanne." Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, hoffend, dass die lauernden Tränen zusammen mit ihm verschwinden würden. „Ich musste mich von Dingen und Gewohnheiten trennen, weil sie einfach zu sehr weh taten. Aber ich würde niemals", sie betonte das letzte Wort besonders, „den Menschen aus meinem Leben verbannen, der mit mir durch jedes beschissene Tal der Tränen gelaufen ist, durch das ich in den letzten Jahren zu laufen gezwungen war. Du bist wie ein Bruder für mich. Solange du nicht die Schnauze voll von mir hast, werde ich dich ganz sicher nicht verbannen." Erwartungsvolle Stille machte sich breit. Noemi überlegte, ob ihre Worte zu ihm durchgedrungen waren, ob sie noch etwas nachsetzen sollte und woher diese Überlegungen Taios überhaupt gekommen waren. Er war normalerweise nicht der Typ dafür, sich über ungelegte Eier den Kopf zu zerbrechen.

Taio nickte zufrieden. Als ihm bewusst wurde, dass sie das nicht sehen konnte, fügte er hinzu: „Barbara hat gesagt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, dass du auch uns aus deinem Leben streichst. Ich war mir sicher, dass sie falsch liegt." Er schlug die Decken zurück und tastete nach seinem Mobiltelefon um mithilfe der Taschenlampenfunktion unverletzt zum Lichtschalter zu gelangen. Erst als er das Deckenlicht eingeschaltet hatte, sah er den hochroten Kopf Noemis, die wütend auf ihr Smartphone tippte.

Noemi unterbrach sich, als das Deckenlicht den Raum flutete und ihre Augen sich unwillkürlich schlossen. „Wem schreibst du mitten in der Nacht?"
„Barbara." Ihre Stimme war ein Knurren. Sie würde das Miststück umbringen.
„Warum?" Taios Arglosigkeit und der fragende Gesichtsausdruck gossen Öl in das Feuer. Sie konnte spüren, dass ihr Gesicht heiß glühte, ihr Bauch zog sich vor Wut zusammen.
„Sie manipuliert dich." Natürlich manipulierte sie ihn. Was sonst? Wie konnte sie es wagen?

„Das verstehe ich nicht, Noemi." Er setzte sich wieder zu ihr auf die Couch. In den vergangenen Monaten hatte er sich ein paar Mal mit Barbara getroffen und sie rief ihn auch jeden zweiten Tag an, um zu fragen wie es ihm ging. Noemi und er hatten darüber gesprochen, dass Barbara eine romantische Beziehung zu ihm wollte, dass das für ihn aber nicht infrage kam. Er hatte aber weiter mit ihr gesprochen und sich auch getroffen, denn er wollte niemanden verletzen.

„Sie redet dir ein, dass ich dich aus meinem Leben streiche - euch, dabei meldet sie sich kaum noch bei mir und wenn, dann nur, weil sie Fragen zu dir hat. Das ist ein mieser Versuch dir zu suggerieren, dass du mich verlieren wirst, dass sie dann aber für dich da ist, weshalb du dich weiter mit ihr treffen solltest." Als sie es laut ausgesprochen hatte, überlegte Noemi, ob sie einfach paranoid und gehässig war und sich das einbildete. Ein Blick in das Gesicht Taios verriet ihr jedoch, dass er über ihre Worte rational nachdachte und Fakten sammelte, die die Aussage veri- oder falsifizieren würde.

„Ich werde nicht gern manipuliert." Noemi leitete aus seinen Worten ab, dass er auch ganz emotionslos zu dem Schluss gekommen war, dass Barbara nicht so freundlich war, wie sie es ihn hatte Glauben machen wollen.

„Niemand wird das." Aufmerksam musterte sie ihn. „Was wirst du jetzt tun?"
Sie wusste, dass er Barbara nicht damit konfrontieren würde, denn er hasste emotionale Auseinandersetzungen jeder Art. Lediglich wissenschaftlichen Diskursen war er nicht abgeneigt.
„Ich schreibe ihr, dass wir uns nicht mehr sehen und sie mich nie wieder anrufen soll." Mehr zu sich selbst, als zu ihr, nickte er. „Dann ignoriere ich ihre Nummer."
Noemi ließ ihre Hände mit dem Smartphone darin sinken. „Ich möchte nicht, dass du ihr schreibst, Noemi." Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch und verzog die Lippen. „Wieso nicht?"
Sanft nahm er ihr das Smartphone ab und zog sie von der Couch hoch. „Du bist nicht meine Mama. Ich kläre meine Konflikte selbst." Er griff nach der ersten Decke und legte sie ordentlich zusammen. „Und jetzt solltest du ins Bett gehen und weiter schlafen. Dein Rücken wird es dir danken."

Nickend verließ sie das Wohnzimmer, ging vorbei am Gäste- bzw. an Taios Zimmer und öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Gerade als sie die Klinke herunterdrücken wollte, fiel ihr Blick wieder auf den Flyer, den ihre reizende Schwester Agnes mit Panzertape an ihre Tür gepinnt hatte: „Weinabend für junge Verwitwete". Vielleicht war es wirklich Zeit einen anderen Weg der Verarbeitung zu wählen, als Dinge zu streichen und zu verbannen.

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L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt