20. „Need you now" (Aaron & Theresa)

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Vergangenheit
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Das erste Mal war kurz nach ihrer Hochzeit in der elften Woche: Sie war morgens aufgewacht und ihre Wäsche war voller Blut gewesen.
Für einen Augenblick hatte sie auf die Laken gestarrt, unfähig sich zu bewegen. Unfähig einen einzigen Gedanken zu denken. Sie war allein gewesen, Aaron war schon auf dem Weg zur Arbeit. Mechanisch hatte sie das Bett abgezogen, die Waschmaschine angeworfen und sich unter die Dusche gestellt.
Das heiße Wasser hatte sich mit ihren Tränen vermischt, während es unaufhörlich auf sie niedergeprasselt war - so lange bis sie sich in der Lage gefühlt hatte aus der Kabine zu steigen, sich anzuziehen und zur Schicht ins Krankenhaus zu fahren.

Sie erzählte Aaron erst einen Tag später, was geschehen war. Erst als sie selbst die Sicherheit von ihrer Frauenärztin und die Kraft gesammelt hatte für Aaron da zu sein.

Noch am selben Abend hatten sie alle Strampler und sämtliche anderen Dinge, die Isy, ihre Mom und ihre Freunde ihnen vor lauter Freude über das Kind geschenkt hatten, zusammengepackt und gespendet.

***

Das zweite Mal war eine Eileiterschwangerschaft gewesen, die Nachricht des Arztes hatte sie unvorbereitet getroffen. Als Theresas Periode ausgeblieben war, waren die Hoffnung, die Sehnsucht und die Freude mit voller Wucht zurückgekehrt. Sie hatten einfach kein zweites Mal mit schlechten Nachrichten gerechnet. Zweimal in Folge. Das konnte das Leben ihnen nicht antun. Das passierte niemandem. Niemand wurde zweimal in Folge so ins Unglück gestürzt.

***

Beim dritten Mal hatten sie die zwölf Wochen Grenze schon überschritten. Aaron hatte nicht mehr damit gerechnet, dass etwas schief gehen könnte. Zwölf Wochen waren die magische Grenze. Nach zwölf Wochen war es geschafft und es würde nichts Schlimmes mehr geschehen.
Theresa hatte Dienst in der Pädiatrie und war den ganzen Tag von Unruhe getrieben gewesen. Etwas war anders in ihr, stiller. Als sie sich gegen Mittag zu einem Ultraschall entschloss, war das Kind bereits seit einem Tag tot. Man verabreichte ihr Medikamente, die die Wehen einleiteten und sie brachte das Baby auf natürlichem Weg zur Welt.

Aaron hatte die ganze Zeit dabei gestanden - unfähig etwas zu sagen oder zu tun, außer Theresa zu halten. Hilflos. Außerstande sich selbst und Theresa zusammenzuhalten.

Theresa beschlich das Gefühl, dass es nicht sein sollte; dass sie und Aaron nicht kompatibel waren, dass etwas falsch mit ihr war. Sie zog sich immer weiter zurück, lebte nicht mehr zusammen mit Aaron, aber neben ihm.

***

Die folgenden zwei Fehlgeburten geschahen erneut in den ersten zwölf Wochen.

Die Ärzte wussten sich keinen Rat. Beide wurden von Kopf bis Fuß durchgecheckt, Spermiogramme, Blutuntersuchungen - alle Befunde kamen negativ zurück.
Aaron wurde rastlos, vergrub sich in Arbeit, machte eine gute Miene zum bösen Spiel.

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Du darfst nicht nicht hängen lassen."
Das hatte er grad nicht gesagt. Theresa starrte ihn an. „Das kann nicht dein scheiß Ernst sein." Ihr ganzer Körper zitterte vor Wut. Sie hatte diese leeren Worthülsen so satt. So unendlich satt. Und jetzt wagte selbst Aaron es ihr damit zu kommen?  Sie konnte es nicht fassen, griff nach ihrer Handtasche und rannte hinaus in die Nacht.

Aaron seufzte. Das war nicht ihr erstes Mal und würde auch nicht das letzte gewesen sein. Er konnte es ihr schon lange nicht mehr recht machen.
Müde setzte er sich an den Schreibtisch und rief die Baupläne des Einkaufszentrums auf, um zum hundertsten Mal die Aufteilung der Food-Lounge anzupassen.

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Theresa zog sich immer mehr in sich zurück. Sie stritten fast nur noch, wenn sie zusammen waren. Hielten es aber auch nicht ohne einander aus, vergingen vor Sorge, wenn der je anderen mal nicht bei einem war, verirrten sich im Nebel der Suche nach einer Anwort auf die Frage nach dem Warum und der Schuld. Wohl wissend, dass es nirgendwo hin führen würde, aber nicht in der Lage umzukehren.

Freunde und Familie wandten sich nach und nach ab. Die ständig enttäuschte Hoffnung, das Leid der beiden war für viele zuviel. Sie wussten nicht was sie sagen oder wie sie gucken sollten. Das war es, was Theresa am meisten zu schaffen machte. Das diese Menschen aus ihrem Problem ihr eigenes machten.

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„Langmore?" Theresa hatte nicht auf das Display geschaut und den Anruf blind angenommen. Sie hatte einen guten Tag, war joggen und arbeiten gewesen. Nun stand sie am Herd und kochte Lasagne für Aaron. Als sie nichts hörte, nahm sie das Smartphone von Ohr und sah den Namen ihrer Schwester. „Isy? Hallo?" Sie lauschte angestrengt.

„Hey... Ähm... wie geht's?"

Theresa erzählte ihr von ihrem Tag und der Lasagne, plauderte über ein senfgelbes Kleid, was sie im Schlussverkauf erstanden hatte, von dem sie nun aber nicht mehr sicher war, dass sie die Farbe in der Öffentlichkeit tragen konnte. „Isy, warum so schweigsam? Ist was nicht ok?"

„Ich sag es dir am Telefon, damit du dich nicht für mich freuen musst und ganz so reagieren kannst, wie du es möchtest." Theresa legte den Kochlöffel beiseite und drehte die Temperatur herunter. Was war denn jetzt los?

„Ich bin schwanger."

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Theresa war unendlich enttäuscht über das Verhalten ihrer Schwester. Diese versuchte zu erklären, dass sie es doch nur gut gemeint habe, aber Theresa kam nicht darüber hinweg, dass man ihr die Fähigkeit absprach sich für ihre Schwester zu freuen und anscheinend so krass gering von ihr dachte; dass ihre Schwester aus Theresas Leid ihr Problem gemacht hatte, was es in einem unpersönlichen Telefonat von sich zu schieben galt.

Aaron hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Noch nie in seinem Leben hatte er ein Problem nicht lösen, etwas Zerbrochenes nicht reparieren können. Immer wenn er Theresa auf Isy ansprach, verzerrte sich Theresas Gesicht vor Wut und sie riet ihm sich verdammt nochmal nicht einzumischen.

Letztlich sah Aaron keinen anderen Ausweg. Sie taten sich beide nicht mehr gut - darin waren sie sich einig. Sie lebten in derselben Wohnung, teilten sich dasselbe Bett und schliefen miteinander, wenn die kleine Maschine, die die fruchtbaren Tage anzeigte es ihnen befahl.
Aber das konnte nicht alles sein, was das Leben für ihn bereithielt. Seiner Frau dabei zuzusehen, wie sie kaputt ging und selbst daran zugrunde zu gehen.

L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt