4. „F*ck you" (Tristan & Noemi)

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Vergangenheit
♾♾♾

Heute würde er Noemi dem ganzen Rudel vorstellen. Bisher kannte sie nur seine Eltern, seine vier Schwestern und seinen Zwillingsbruder. Er hatte seit Tagen Bauchschmerzen und malte sich die schrecklichsten Szenen aus, in denen sie schreiend weglief. Er seufzte tief. Ob sie seine Kernfamilie mal dreißig aushalten würde? Selbst er hielt die Lautstärke, die Emotionalität und das Chaos manchmal nicht aus.

Seine Abuela wurde an diesem Tag 90 und sämtliche Verwandte, Bekannte und Freunde - vermutlich auch der Postbote und der Praktikant aus dem Supermarkt - würden mitfeiern. Familie wurde bei ihnen groß geschrieben. Seine Familie war so laut, völllig abgedreht. Irgendwer erzählte immer irgendwas lautstark, wild gestikulierend und in epischer Breite. Das konnte mitunter wahnsinnig anstrengend sein.

Zumindest musste sie sich keine Sorgen machen, dass ihr kein Gesprächsthema einfallen würde. Sie würde nicht mal zu Wort kommen.

Jetzt stand sie neben ihm, in einem kurzen blauen Kleid mit ausgestelltem Rock. Sie hatten die letzten Tage viel am Strand gelegen und ihr Gesicht und ihre Arme waren voll mit Sommersprossen, die sie unglaublich hässlich fand. Er hingegen liebte sie,  sie waren süß und machten seine Freundin noch schöner.

An den Füßen trug Noemi ihre geliebten weißen Chucks, obwohl ihre Mutter gewollt hatte, dass sie wenigstens Ballerinas trug. Lieber noch Schuhe mit Absatz. Aber so war Noemi nicht und je mehr ihre Mutter darauf bestand, desto bockiger wurde sie.

Tristan seufzte. Sie waren seit vier Jahren zusammen und man konnte man sich nicht immer vor Familienfeiern drücken, obwohl er es wirklich versuchte.

Er bemerkte, saß Noemi immer hibbeliger wurde. Schnell gab er ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Sei nicht nervös. Alle werden dich so sehr lieben wie ich."

Vor ein paar Tagen, an ihrem Sechzehnten Geburtstag hatte er es ihr zum ersten Mal gesagt und seitdem jeden Tag. Und es fühlte sich jedes Mal wahnsinnig gut an. Ja, er war sechzehn Jahre alt und konnte sich kein anderes Mädchen als Noemi vorstellen.

Im Gegenzug stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Ich liebe dich auch." Dann drückte sie den Klingelknopf.

„Vergiss das nicht, Emi. Bitte vergiss das nicht."

***

Tristan hatte mit seiner Familie nicht übertrieben. Sie kannte bisher nur seine Eltern und Geschwister und die waren zwar lebhaft und redeten ganz oft alle durcheinander, aber sie hatte selbst eine große Familie und das störte sie nicht. Allerdings hatte sie keine seiner Geschichten auf die Naturgewalt vorbereitet, die der Rest seiner Familie darstellte.

Hätte Tristan sie nicht durch das Haus gezogen, sie wäre mit offenem Mund stehen geblieben. Das riesige Anwesen seiner Großmutter war an sich schon überwältigend, aber gleichzeitig dazu stellte er sie allen vor. Und ‚alle' waren gefühlt über hundert Personen. Sie konnte sich auf keinen Fall alle Namen merken, was ihr furchtbar leid tat, weil alle super nett zu ihr waren und sie umarmten, links und rechts auf die Wange küssten und sie mit Fragen bombardierten, auf deren Antwort sie aber nicht warteten, weil sie ihr im nächsten Satz sagten, wie hübsch sie war oder dass sie sich so freuten sie endlich mal kennen zu lernen.

Nach drei Stunden brummte ihr Kopf, denn die Geräuschkulisse war der Wahnsinn. Sie sprach bloß Schul-Spanisch und das bereitete einen nun wirklich nicht auf echte Gespräche in realistischem Tempo vor.
Und Tristans Leute sprachen nicht nur Englisch und Spanisch, sondern auch Deutsch und vorhin hatte sie sogar ein wenig Französisch gehört. Seine Familie lebte weit verstreut in den USA und Europa, aber für Abuela Maria kommen alle zusammen. Die hatten sie tatsächlich noch nicht gesehen und Noemi  hielt immer noch das kleine Geschenk für sie in der Hand.

„Lo siento. Necesitamos algo de beber." Etwas trinken! Sie liebte Tristan allein für die Idee! Schnell zog er sie von seinen Cousinen weg, die Noemi überreden wollen im Sommer mit Tristan nach Barcelona zu fliegen.

Er hielt ihre Hand ganz fest und schlängelte sich mit ihr durch die vielen Gäste und das wunderschöne Haus. Seine Abuela lebte seit vielen Jahren hier, aber das Haus sah aus, als hätte sie es direkt aus Europa mitgebracht, denn es könnte genauso gut im heißen Spanien am Meer stehen. Es war wunderschön, sehr hell und lichtdurchflutet. Und es war aufgebaut wie ein O, mit einem großen Innenhof. So was hatte sie noch nie gesehen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie endlich in der Küche an, in der auch Tristans Großmutter sich aufhielt und wo sie in einer riesigen elektrischen Pfanne rührte. Tristan hatte ihr erzählt, dass ein Caterer das Essen brachte, aber dass seine Abuela sich nicht nehmen lassen wollte eine Paella zuzubereiten.

„Abuela? Esta es Noemi." Noemi ließ seine Hand los und ging auf die alte Frau an der Pfanne zu. Sie musterte sie von oben bis unten und er  fühlte sich sofort nicht wohl. Überhaupt garnicht wohl.

„Ella es una niña blanca." Noemi fiel alles aus dem Gesicht. ‚Sie ist weiß.' Wie bitte?

Sofort verstummten alle Gespräche in der Küche. Noemis Blick huschte zu Tristans Mama Sofia, die sie aber nur mitleidig ansah. Ella es una niña blanca.

***

Abuelas Geburtstag wurde schlagartig für alle Beteiligten unangenehm, als sie feststellte, dass Tristans Freundin weiß sei. Tristan selbst war sprachlos und wusste nicht, was er sagen sollte. Dann fiel es ihm ein.

„Abuela, ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag." Er nahm Noemi das Geschenk ab und hielt es ihr hin, sie ignorierte es jedoch, also legte er es auf dem Tisch ab.

„Das ist von mir und Noemi, wir hoffen es gefällt dir." Immer noch bekam er keine Reaktion und die Wut kroch seinen Rücken hinauf. Dann eben nicht.

„Vielen Dank für die Einladung, wir können aber nicht zum Essen bleiben." Tristan sah wie seine Mutter den Mund öffnete und nahm aus dem Augenwinkel die aufgerissenen Augen seiner Tanten und Cousinen wahr. Das alles war ihm scheißegal.

Seine Großmutter musterte Noemi noch ein letztes Mal von Kopf bis Fuß und wendete sich wieder ihrer Paella zu. Er schüttelte den Kopf und nahm Noemis Hand.

Gemeinsam verließen sie das Haus.

L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt