26. „Euch zum Geleit" (Aaron)

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Vergangenheit
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„Wie wäre es wohl, wenn wir wüssten, welches Lebwohl unser letztes ist?", flüsterte Aaron, während er an Theresas Grab kniete und sanft über die langsam welkenden, gelben und weißen Blumen des großen Kranzes der Familie strich. „Du fehlst mir so sehr." Vorsichtig knipste er die verblühten Blumen ab, warf sie in die nun leere Gießkanne neben sich. „Habe ich dir oft genug gesagt, wie sehr ich dich liebe? Wusstest du es, als du starbst? Wusstest du, dass du mich zu einem besseren Menschen gemacht hast? Dass ich in dir meine verlorene Hälfte wiedergefunden habe? Habe ich es dir oft genug gesagt?" Er schwieg und gab sich für einen kurzen Moment der Illusion hin, dass sie wirklich ein Zeichen würde senden, um ihm zu sagen, ob sie glücklich gewesen war. Ob er genug gewesen war.

„Ich habe keine guten Neuigkeiten für dich, Kleines." Seufzend sank er auf die Fersen zurück und rieb sich über sein müdes Gesicht. Die Enttäuschung zerfraß ihn. „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll." Mühsam kämpfte er mit den Tränen, die seit acht Tagen an der Oberfläche lauerten, darauf wartend ihn in einem Meer aus Schmerz ertrinken zu lassen. „Selena darf nicht zu mir." Er schluckte hart, die letzten Tage waren ein endloser und letztlich erfolgloser Kampf gegen die Behörden gewesen. „Ich bin nicht genug, Thessa. Sie sagen, ich bin allein nicht genug."
Als er die Worte endlich ausgesprochen hatte, die ihn seit Tagen verfolgten, die ihn in seinen Träumen heimsuchten, ihn in unbedachten Momenten quälten, sackte er vorn über und gab auf, ließ den heißen Tränen freien Lauf und hieß den Schmerz willkommen.

Lautlos schüttelte es den großen Mann. Alles verzehrend riss der Schmerz an ihm; betäubte ihn, ließ ihn dumpf und gefühllos zurück.

„Irgendwann wird es besser, wissen Sie." Aaron wandte sich der Stimme zu, wütend und dankbar zugleich aus seinem Schmerz gerissen zu werden. Mit einigen Schritten Abstand wartete eine alte Frau hinter ihm. „Zumindest behaupten das immer alle." Sie zwinkerte ihm zu.
Aaron gab sich einen Ruck und erhob sich. Er wusste nicht, was er erwidern sollte und schwieg. Im Unklaren darüber, ob er wollte dass die Frau ginge oder bliebe, drehte er sich zu ihr um und sah sie erwartungsvoll an.

Die kleine Dame - sie war sicherlich nicht einmal einen Meter sechzig groß - ging an ihm vorbei und legte eine einzelne Rose auf das Grab Theresas.

„Sie kannten meine Frau?" Aaron war sich sicher, dass er die alte Frau noch nie gesehen hatte, aber sie konnte eine Patientin sein, die Oma einer ihrer Freundinnen. Er hatte nicht jeden Menschen gekannt, der mit seiner Frau verkehrt hatte.

„Nein, mein Junge." Sie ging einen Schritt auf ihn zu und tätschelte seinen Arm. „Obwohl sie bestimmt eine umwerfende Frau gewesen ist, wenn der Schmerz über ihren Verlust ihnen so zusetzt." Ihre blassblauen Augen unterzogen ihn einer strengen Musterung. „Sie müssen auf sich aufpassen."

Als sie den Widerwillen in seinem Gesicht sah, hakte sie sich bei ihm unter und bat ihn, ihr zur nächsten Bank hinüber zu helfen. Obwohl Aaron sich zu einhundert Prozent sicher war, dass sie nicht so altersschwach war, wie sie vorgab zu sein, tat er ihr den Gefallen. Er konnte es nicht erklären und doch hatte diese kleine Gestalt, mit fusseligen, langen, weißen Haaren etwas an sich, dass ihm Ruhe versprach.

Als sie eine Weile schweigend auf der Bank gesessen hatten, durchbrach er die Stille. „Wenn sie meine Thessa nicht kannten, warum dann die Rose?"

Als sie zu kichern begann, statt zu antworten, bereute Aaron es fast sich zu ihr gesetzt zu haben. „Na, ihre Frau liegt auf meinem Mann." Aaron sah, wieviel Mühe es die Frau kostete nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

„Wie bitte?"

„Dieser Abschnitt des Friedhofs ist 25 Jahre alt. Nach dieser Zeit machen sie die Gräber platt und säen eine neue Reihe toter Gebeine, auf dass diese in den kommenden 25 Jahren vermodern werden. Technisch gesehen, habe ich die Rose zwar auf das Grab ihrer Frau gelegt - aber sie ist bloß die Nachmieterin meines Mannes, also ..." Sie lächelte traurig und strich über den goldenen Ring an ihrer linken Hand. „Wieviele Ehepartner wohl schon unter ihrer Theresa und meinem Theodor liegen?"

Aaron sah sie erstaunt an. Noch nie hatte er sich Gedanken gemacht, wie Friedhöfe mit dem begrenzten Platz, aber dem nie enden wollenden Nachschub an neuen Bewohnern umgingen. Einerseits fand er das Arrangement befremdlich, andererseits auch tröstlich. Irgendwie.

„Sie haben es überlebt." Aufmerksam beobachtete er ihr Gesicht, über das ein Schatten huschte.

„Ehrlich? Lange Zeit hatte ich nicht gewusst wie. Mein Theo und ich, wir haben mit achtzehn geheiratet und lebten für ein halbes Jahrhundert glücklich zusammen. Wir haben einen Weltkrieg überlebt, Wettrüsten, die Kuba Krise, Börsencrashs, gute und schlechte Präsidenten." Sie sah ihn an. „Und dann stolperte er und brach sich das Schlüsselbein. Da war er achtundsechzig." Ihr Blick glitt in die Ferne. „Eine Woche später war er tot. Er hat sich im Krankenhaus mit einem multiresistenten Keim angesteckt, er hatte keine Chance."

Aaron wusste nicht, was er sagen sollte. Am Ende entschied er sich zu schweigen und zuzuhören. „Ich habe gedacht, dass ich mit ihm sterben müsse. Fast Siebzig war ich da, hatte entzückende Enkelkinder, eine Ehe von der viele Menschen heute noch träumen dürften, ich habe mein Leben immer genossen. Und ich schwöre bei Gott, dass ich sterben wollte." Sie tätschelte wieder Aarons Arm.

„Das hört man doch so oft, ja? Der eine Ehepartner stirbt und der andere geht oftmals hinterher - immer vorausgesetzt, man hat ein gewisses Alter erreicht, Sie, mein Junge, werden also schön weiterleben. Also habe ich mich Zuhause in unser Ehebett gelegt und gewartet." Wieder kicherte sie. „Wie sie sich denken dürften, hat er mich nicht zu sich geholt."

Seufzend zog sie ein Bonbon aus ihrer Tasche und wickelte es aus. „Ich habe überlebt, obwohl ich nicht wollte. Manches Mal habe ich mich gefragt wofür? Man sucht sich ja nicht einen neuen Kerl, einfach so. In meinem Alter." Sie schon die Süßigkeit zwischen ihre Lippen. „Ich hab jetzt drei Urenkelkinder. Freche kleine Biester, die schon mit zwei Jahren wissen, wie man die Flimmerkiste einschaltet und auf dem Handy wischt."

Aaron nickte und konnte sich nicht verkneifen tief zu Seufzen. „Die Jugend von heute."

Die Alte zwinkerte ihm zu und fuhr fort. „Vor drei Jahren - kurz vor meinem neunzigsten Geburtstag - traf ich Joseph. Und wissen Sie, ich bin sicher, dass Theo ihn gemocht hätte."

Sie zerknüllte das Bonbonpapier und stand auf. „Mein Leben war mit achtundsechzig nicht vorbei, sie sind nicht mal halb so alt. Sie werden überleben. Wie, dass entscheiden Sie."

Müde nickte Aaron. An eine andere Partnerschaft als Theresas wollte er gar nicht denken. Aber es war gut zu wissen, dass er noch gute sechzig Jahre hatte, um möglicherweise eine neue Partnerin zu finden.

Während die alte Dame von einem freundlich lächelnden Senioren abgeholt wurde, der sie anlächelte, als wäre sie ein Geschenk und ihr einen dicken Kuss auf den Mund drückte, blieb Aaron sitzen.

„Wie wäre es wohl, wenn wir wüssten, welches Lebewohl unser letztes ist? Würde es unser Leben wirklich besser machen?" Sie zwinkerte Aaron zum Abschied zu, verschlang ihre Hand mit der von Joseph und ging langsam in Richtung des Ausgangs.

L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt