16. „Painkiller" (Tristan & Noemi)

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Vergangenheit
♾♾♾

Nichts tat jemals so weh. Nichts würde jemals wieder so weh tun, hoffte sie.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es schlimmeren Schmerz als diesen geben könnte. Wollte sich nicht vorstellen, dass es so wäre.
Noemi hatte mittlerweile aufgegeben zu glauben, dass der Schmerz irgendwann nachlassen würde. Sie stand morgens auf, sie aß, sie redete mit ihrer Familie, ging sogar in die Seminare mit Anwesenheitspflicht. Dabei taten einfach jeder Atemzug und jeder Schritt weh. Jedes Wort, dass man sie zwang zu sprechen, jedes Lächeln, was man ihr abrang, kosteten sie soviel Kraft, dass sie irgendwann glaubte nicht einmal mehr die Augenlider öffnen zu können, weil das zuviel Energie verbrauchte. Sie litt. Sie litt Höllenqualen und hatte keine Ahnung wie sie das stoppen könnte. Oder ob es zu stoppen wäre.

Tristan litt ebenfalls. Anders. Lauter. Er hatte begonnen Sachen zu zertrümmern. Er joggte, bis er in Schweiß gebadet war und die Muskeln in seinen Beinen zitterten. Und dann zwang er sich weiterzulaufen. Er fing aus dem Nichts Streits an. Er trank. Er ging daran kaputt.

Auch Taio litt, denn in keinem Buch stand die Antwort auf die Frage, wie er ihnen helfen könnte den Verlust zu überstehen. Er sah, wie all die Floskeln, die die Familie ihnen hinwarf, Noemi zerrissen und Tristans Wut anstachelten. Irgendwann zuckte er selbst zusammen, wenn wieder jemand davon sprach, dass Noemi ja „jung" sei und „es ja nicht aller Tage Abend" wäre; dass „sie ja noch Zeit" hätten und „es sicherlich beim nächsten Mal" klappen würde.
Er verstand nicht wieso man nicht den Mund hielt, wenn man nichts zu sagen hatte, was hilfreich war. Also fing er an die beiden abzuschirmen, verbrachte seine vorlesungsfreie Zeit in Noemis Zimmer und wimmelte einfach jeden ab, der zu ihr wollte. Obwohl er nicht wusste, wie er helfen konnte, gab er was er hatte: Seine Anwesenheit.

So ging es seit Wochen und Monaten. Taio bekam es jeden Tag mehr mit der Angst zu tun, denn er erkannte seinen Bruder und dessen Freundin nicht wieder. Noemi hatte ihm erzählt, dass Tristan sie - mit irgendeinem unwichtigen Mädchen - betrogen hatte. Dass es sie noch immer störte und sie so unglaublich wütend auf ihn gewesen war. Aber sie war - für das kleine Lebewesen in ihrem Bauch, das zu dem Zeitpunkt nicht größer als ein Gummibärchen gewesen war, über ihren Schatten gesprungen und hatte sich mit ihm vertragen.
Leider ließ sich der Stachel des Zweifels auch in langen Gesprächen nicht ziehen. Diese Wunde heilte nur schlecht. Aber für das Kind hätte sie alles getan. Und dann war sie in Stücke gerissen worden, als der Fötus abging.

„Noemi?" Taio saß auf ihrem Bett und beobachtete sie, wie sie aus dem Fenster in den Regen starrte. „Noemi?" Auch wiederholte Ansprachen rissen sie nicht aus ihren Gedanken. „Feuer?"

Irritiert wandte Noemi sich Taio tatsächlich zu. Fragend hob sie die Augenbrauen, was lediglich mit einem Schulterzucken seitens Taios quittiert wurde. „Das funktioniert in Filmen immer."

„Ich dachte, du schaust nicht gern fern?"

„Nun, es ist ein von der Allgemeinheit anerkanntes Mittel der Freizeitgestaltung." Er stand auf und ging zu ihr herüber. „Deine Stimme hat einen Unterton. Hältst du das Fernsehen für eine Tätigkeit, derer ich mich schämen sollte?" Mit gerunzelter Stirn wartete er auf Noemis Antwort. Er schätze sie und ihre Meinung sehr und wusste darum, wie unbeholfen er in Dingen war, die für andere selbstverständlich waren. Damit hatte er sich schon vor seiner Pubertät abgefunden. Dafür sprach er mittlerweile elf Sprache fließend. Das konnten andere nicht.

„Fernzusehen ist ok, Taio."

Fieberhaft überlegte er, wie er das Gespräch am Laufen halten und verhindern könnte, dass sie wieder hinausstarrte. Er war sonst kein Poet, aber sicherlich könnte man sagen, dass Noemi verschwand. Die Noemi, die er kannte und die für ihn und Tristan alles bedeutete, verschwand.

„Bald ist Weihnachten und in Chicago soll es einen Weihnachtsmarkt nach deutscher Tradition geben. Wusstest du das?" Taio freute sich über Noemis Reaktion, denn sie wandte sich nun zu. Dadurch ermuntert, sprach er weiter. „Es soll ein winterliches Weihnachtsdorf im Herzen Chicagos sein. Der Markt in Chicago basiert wohl auf einem der ältesten deutschen Weihnachtsmärkte, dem Nürnberger Christkindlesmarkt. Ich habe gelesen, dass Aussteller aus Deutschland und aller Welt anreisen, um ihre Produkte in über 50 Ständen zu präsentieren. Es gibt Stollen und Nürnberger Lebkuchen und Weihnachtsdekorationen, Holzspielzeug und Kleidung, und traditionelle Bierkrüge, Nussknacker und Kuckucksuhren." Seine Augen leuchteten. Allein die Vorstellung mit den Menschen fachsimpeln und seine Aussprache noch verbessern zu können, machten ihn glücklich.

„Und Noemi es gibt deutsches Essen. Ich würde gern probieren, was Leberkäse ist. Es klingt nicht wohlschmeckend. Aber es weckt meine Neugierde. Und das Bier! Ich möchte gern ein gezapftes deutsches Bier."

„Seit wann trinkst du Bier?"

„Geschmackspräferenzen bilden sich durch wiederholtes Probieren. Wer aber öfter abwechselt, verbessert seine Versorgung mit Vitaminen und den kulinarischen Spielraum. Ich erweitere also meinen Horizont und verbessere meine Konstitution."

Noemi grinste ihn an, was Taio mit einem kurzen erschrockenen Blick quittierte, den er aber schnell zu überspielen suchte. „Du bist ein Mann, du willst Bier. Nenn es Vorurteil, aber rede doch nicht um den heißen Brei."

Taio schwieg, lächelte ihr aber zaghaft zu.

Als es an der Tür klopfte, war Taio der einzige, der auf das Geräusch reagiere. Er hätte laut schreien können, obwohl das nicht seine Art war. Der Weihnachtsmarkt hatte sie gekriegt, sie hatte soviel am Stück an einer Unterhaltung teilgenommen wie seit Wochen nicht.
Aber noch bevor er zur Tür stürzen und ungebetenen Besuch verhindern konnte, öffnete sie sich und Tristan trat ein. Taio war ehrlich überrascht, was nicht häufig vorkam. Sein Bruder war nicht völlig verschwitzt, weder hochrot vor Wut, noch hatte er dieses Funkeln in den Augen, dass für Taio häufig ein Hinweis darauf war, dass er Streit suchte.

„Noemi, ich möchte mit dir reden." Sie stand mit einem ergebenen Gesichtsausdruck auf und hielt im die Wange für einen Bussi hin. Dann nickte sie, obwohl es ihr egal war, was er vorschlagen würde.

Alles war egal seitdem... es passiert war.

L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt