27. „Foxtrott Unicorn Charlie Kilo" (Aaron & Noemi)

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Gegenwart
♾♾♾

Noemi saß frustriert neben Aaron, führte mechanisch die Gabel zum Mund, lächelte, nickte, antwortete sogar in ganzen Sätzen - funktionieren konnte sie. Schon immer.
Die kirchliche Trauung hatte sie mit einem schalen Geschmack im Mund zurück gelassen.
Der ungeklärte Streit mit Aaron schwebte über jeder Geste, jedem Wort. Verdammt ging ihr das alles hart auf die Nerven.

Aaron saß hilflos neben Noemi, überwältigt von der Wucht der Gedanken an Thessa, die ihn mitten in der kirchlichen Trauung völlig unvorbereitet überfallen hatten und angestrengt nach einem Ausweg aus der angespannten Situation mit Noemi suchend. Marlons allzu offensichtliches Interesse an Noemi strapazierten seine ohnehin überreizten Nerven zusätzlich ins Unermessliche. Verdammt ging ihm das alles hart auf die Nerven.

Abrupt stand Noemi nach dem Essen auf. Die Heftigkeit ihrer Bewegung hatte den Stuhl beinah nach hinten umgerissen, doch Aaron war es gelungen ihn aufzufangen, bevor der Knall die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sie gezogen hätte. Dankbar lächelte Noemi ihm zu.

„Ich muss mir kurz die Beine vertreten", murmelte sie leise und nahm die taubenblaue Stickjacke von ihrem Stuhl. Leise raschelte ihr bodenlanges Kleid, als sie den Stuhl an den Tisch heran schob. Als Aaron und Marlon sie beinah zeitgleich fragten, ob sie sie begleiten sollten, gelang es ihr gerade noch den Kopf zu schütteln, bevor sie regelrecht aus dem Festsaal floh.

Als sie durch die Flügeltüren des Saals getreten war und sich damit den Blicken der beiden Männer entzogen hatte, atmete sie auf. Dieses Wochenende war anstrengender als gedacht.
Seitdem sie in diesem verdammten Hotel angekommen war, hatte sie das Gefühl immer mehr die Kontrolle zu verlieren. Alles und jeder hier zwang sie zu reagieren, aber es war ihr versagt selbstbestimmt zu handeln.

Sie stürzte aus dem Eingangsbereich des Hotels in den Garten, ignorierte die Blicke der anderen Gäste. Einen Augenblick lang kam sie sich vor wie das flüchtende Aschenputtel, so hetzte sie die lange Treppe des alten Gebäudes hinab. Aber weder verlor sie einen Schuh, noch würde ihr Prinz kommen und in ihr seine Geliebte erkennen. Ihr Prinz war tot. Und alle anderen Prinzen entpuppten sich als übergriffige Nervtöter.

Diese Fake-Beziehungskiste mit Aaron war eskaliert, als er sie küsste und hatte sich in eine Katastrophe verwandelt, als er dieses dumme Wochenende zu einem Date erklärt hatte.
Marlon nutzte ihre Verwirrung aus, gebrauchte sein Wissen über Aaron und sie um ihre sorgsam hochgezogenen Mauern zu durchbrechen.

Schluss. Damit war jetzt Schluss. Relevant war nur noch, was sie wollte.
Was wollte sie?

***

Aaron stürzte den zweiten Whiskey fast noch schneller herunter, als den ersten. Wie hatte das alles nur so schnell eskalieren können? Noemi war seit mehr als zwei Stunden verschwunden, er hatte ihr folgen wollen, aber fürchtete sich davor, dass sie ihn fortschicken würde.
Er wäre rastloser, hätte er durch die vielen tanzenden Paare nicht Marlon im Blick, der zwischen Barbara und Diana saß und angeregt zu plaudern schien. Auch er ließ ihn nicht aus den Augen. Wäre die Situation nicht so beschissen, würde er laut darüber lachen, dass sie sich beäugten wie zwei Wölfe, bereit loszuspringen, sollte der eine eine unbedachte Bewegung machen.

Obwohl Thessa sich machtvoll in seine Gedanken zurück gedrängt hatte, war er sich doch immer noch sicher, was Noemi anging. Sie war das beste in seinem Leben und gemeinsam würden sie eine Zukunft haben können. Er war sich so sicher, wie man sich sein konnte.

Gerade als er das dritte Glas mit der goldbraunen Flüssigkeit an seine Lippen hob, die drohte ihm die Kehle zu verbrennen - Jack hatte einen grässlichen Geschmack - trat Noemi zurück in den Saal.
Mit größter Mühe widerstand er dem Drang aufzuspringen und zu ihr zu eilen. Stattdessen hielt er sich zurück. Lehnte seinen Körper betont lässig an die Bar und beobachtete ihre zierliche Gestalt, die sich in dem langen taubenblauen Kleid zielstrebig durch die Menge bewegte. Als sie ihren verlassenen Tisch erreichte, sah sie sich suchend um.
Jede Faser seines Körper wollte aufspringen und sie mit beiden Armen winkend zu sich lotsen, doch er hielt sich zurück. Wartete, ob sie zu ihm kommen würde.

Suchend drehte sie sich langsam um ihre eigene Achse. Dann fand ihr Blick den seinen und ein Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen.

Als sie sich einen Weg am Rand der Tanzfläche entlang zu ihm bahnte, kämpften in ihm Erleichterung und Sorge um die Oberhand. Würde sie ihm sagen, dass das Date-Experiment gescheitert war? Oder würde sie Marlon zum Teufel schicken?

Als sie endlich vor ihm stand, stellte er das Glas ab und sah ihr in die Augen, suchte nach einer Antwort.

„Tanz mit mir, Aaron." Während sie sprach, streckte sie ihm die Hand entgegen, die er erleichtert nahm.
Er übernahm die Führung und drehte sie mit Schwung in seine Arme. Seine Hand fand ihren Rücken und presste ihren Körper an seinen. Ausgelassen drehte er sie über die Tanzfläche, wirbelte sie immer wieder um sich selbst. Sie fühlte sich einfach fantastisch in seinen Armen an.

Noemi lachte ausgelassen. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sich geschworen die Führung nicht mehr abzugeben und nun ließ sie sich über die Tanzfläche wirbeln wie es Aaron gefiel. Gute Vorsätze waren so wichtig. Die gehässige Stimme in ihrem Kopf ignorierend tanzte sie einfach weiter. Ließ sich umherwirbeln, drehen, in Aarons Arme ziehen.

Lachend zog sie ihn gefühlt unzählige Tänze später zurück an ihren Tisch und ließ sich erschöpft auf ihren Platz fallen. Sie bedeutete Aaron, dass sie Durst habe und er machte sich sofort auf den Weg zur Bar.

Ausgelassen grinsend bestellte er eine große Flasche Wasser und zwei Gläser Riesling und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Theke. Noemi schien ihm verziehen zu haben, sie war wieder ganz die Alte.

Als er sich mit der Flasche in den zwei Gläsern umdrehte, sah er gerade noch wie Marlon sich zu Noemi herabbeugte, ihr feines Gesicht zwischen seinen Händen und ihr einen Kuss auf die Lippen drückte.

L(i)eben ohne dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt