[6.2] Auf den Arm nehmend

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Ich war zwar irritiert, wohin er mich führen wollte, doch folgte ich Oikawa ohne ein Wort des Widerstandes. Einmal nach links, dann geradeaus die Straße entlang. Vorbei an einem kleinen Spielplatz. Nochmal rechts abgebogen, und schon standen wir vor einem unbeschäftigten Parkplatz, dessen Auffahrt mit einer heruntergelassenen, gerosteten Schranke versperrt war. Neben dieser Fläche befand sich ein kleines Gebäude, welches mit seinen heruntergelassenen Rollos und dem alten Schild über Tür und Fenster wissen ließ, dass es sich um ein ehemaliges Geschäft handelte.

Oikawa hatte einen Volleyball mitgenommen und pritschte nun zum Aufwärmen seiner Finger diesen gegen die ebene Häuserwand des verlassenen Gebäudes. Ich blieb mit etwas Abstand an der Wand gelehnt zu ihm stehen, und schaute dem Kapitän dabei zu, wie er im Schein der am Wegesrand stehenden Laterne sicher und elegant das Leder immer wieder von sich wegdrückte. Wie sich seine Hände in einer geschmeidigen Bewegung nach außen drehten und dann wieder Haltung einnahmen, als der Ball zurücksprang.
„Sorry, falls sie zu aufdringlich sind", sprach er dann mit einem genervtem Unterton auf einmal, und fing den Ball über der Stirn auf.
„Nein, schon gut! Ich finde sie wirklich nett!", winkte ich ab und wandte meinen Blick. Zum Himmel aufsehend, musste ich ein bisschen lächeln,
„Deine Mutter ist echt nett. Und dein Vater scheint sich auch gut um euch zu kümmern."
„Meinst du?"
Wieder begann er mit dem Pritschen, diesmal ohne Wandkontakt und direkt über seinen Kopf, in die Luft.
Ich hörte die leisen Geräusche, wenn der Ball seine Finger berührte, wie er in ganzer Regelmäßigkeit hochflog und für den Bruchteil einer Sekunde landete. Perfekte Ballkontrolle.
„Für mich sind sie ganz normale Eltern."
„Wenn das normal ist, finde ich es schön", wurde mein Lächeln schmaler, wenn nicht sogar ein bisschen trauriger.
Ich fiel in meine Gedanken, so dass ich gar nicht bemerkte, wie Oikawa abrupt aufhörte. Erst als er mir den Ball plötzlich zupasste und ich reflexartig meine Arme hochriss, um ihn zurückzuspielen, blinzelte ich ihn verdutzt an.
Er fing ihn auf und schaute dann ernst drein,
„Zeig mir dein Zuspiel!"
Bevor ich Nein sagen konnte, warf er mir den Ball ein weiteres Mal zu und ging weiter zurück, um unseren Abstand zu vergrößern. Ich hob erneut die Arme, spielte einen zweiten Pass und bekam sogleich einen ablehnenden Zungenschnalzer, kaum hatte er ihn wieder in den Händen:
„Deine Arme sind viel zu steif!" Irritiert schaute ich Oikawa an. „Und deine Knie zu durchgestreckt. Deine Fingerhaltung ist total krumm! Oh Mann..."
Zugegeben, ich war etwas überfordert. Hatte er noch mehr zu meckern?
Oikawa kam mit einem Seufzen, der mich fühlen ließ, als wäre ich der totale Versager, auf mich zu und gab mir mit der flachen Hand einen Klaps auf die Ellbogen – „Hier!" – dann auf die Finger – „Hier!" – und schließlich hockte er sich hin und verpasste mir einen Handkantenschlag in die Kniekehle, so dass ich erschrocken einsackte: „Und hier!"
Selbst als er sich wieder auf Augenlevel mit mir begab, war sein Mund immer noch zu einer missbilligenden schiefen Linie verzogen. Aber seine Augen bedachten mich mit einem ruhigen, aufmerksamen Blick.
„Heb die Arme."
Ich tat, wie mir geheißen und nahm die Haltung ein, die ich als richtig empfand.
Oikawa legte den Ball allerdings zunächst zu Boden und stellte sich direkt hinter mich, um mit der Korrektur zu beginnen: den Winkel meiner Ellbogen, der Eindrehung meiner Hände, die Richtung meiner Daumen.
Lange hatte ich solch eine Haltungsberichtigung nicht mehr über mich ergehen lassen müssen und fühlte mich somit noch gekränkter in meinen Spielerstolz. Als wäre ich der absolute Noob. Aber gut... wann hatte ich das letzte Mal zuspielen müssen? Wann das letzte Mal richtiges Training? Im Grunde hatte er wohl recht. Immerhin war er ja auch der erfahrene Setter und nicht ich,

„Dreh die Hände noch ein wenig mehr ein – so." Seine Finger berührten meine, drehten meine Handteller nach innen, „Denk dran, du hast den Ball immer direkt vor Augen."
Seine Knie berührten dann mit einem Mal meine Kniekehlen und ich unterdrückte einen überraschten Ton, der meiner Kehle entkommen wollte,
„Benutz deine Gelenke. Du bist nicht schnell genug, wenn du steif bleibst."
Warum klang seine Stimme so nah an meinem Ohr?
Ich wollte es ungern zugeben, aber... ich fand Gefallen daran, wenn er so ernst und konzentriert bei der Sache war und mit mir sprach. Es erinnerte mich an die Nachhilfestunde in Mathe im Krankenhaus und ich biss mir auf die Unterlippe, weil ich mein Herz schneller schlagen spürte.
„Okay und jetzt..." Er beugte sich vor und hob den Ball auf. Seine Arme streckten sich an meinen vorbei und legten das Leder in meine Hände. Ich wusste zwar, dass er größer war als ich, aber jetzt fiel mir der Unterschied erst richtig auf.
„... prägst du dir diesen Anblick ganz genau ein."
Oikawas Atem kitzelte mein Ohr und es fiel mir schwer, mich noch auf die Haltung zu konzentrieren, den Ball nahe meiner Stirn zu belassen, und mich nicht nur auf den Kapitän zu fokussieren, was meine benebelten Sinne nur zu gerne tun wollten. Ich schluckte, versuchte irgendwie die Wärme loszuwerden, welche mein Gesicht erfasste.
Was war nur los mit mir?!
„Und dann drückst du ihn von dir weg."
Seine Hände führten meine und ich spürte, wie der Ball meine Handflächen verließ und in die Luft flog. Höher als sonst. Vollkommen ohne Kraftaufwand. Weil sich meine Beine automatisch mitstreckten.
Die Flugbahn war zudem kerzengerade und der Ball hatte kaum Rotation. Wenige Sekunden dauerte der Weg nach oben, ehe er zu uns zurückkehrte und ich ihn wieder sicher knapp über meinem Kopf fangen konnte.
„Ganz einfach, oder? Mach's nochmal."
Gemeinsam führten wir unter seiner Leitung ein zweites Spiel nach oben aus. In dem Moment, als der Ball wieder in die Luft ging, drehte ich mein Gesicht zaghaft zur Seite. Nur so viel, dass ich aus dem Augenwinkel zu Oikawa aufblicken konnte. Ich wollte wissen, was seine Augen gerade erzählten. Jene schokoladenbraunen, die sich im Gegensatz zu meinen auf das Leder fixiert hatten.
Seine Ausstrahlung war vollkommen gelassen. Anders als im Spiel, wo er vom Siegeswillen gepackt war.
Nur war ich davon so abgelenkt, dass ich den Moment verpasste, in dem der Ball zurückkam.
Dass der Käpitän Seijous mit einem Mal ebenso zu mir guckte, unsere Blicke sich kreuzten, ließ mich die Luft anhalten. So nah...

So wie du bist (OikawaxReader)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt