[7.1] Abschied

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Ich öffnete meine Augen, wollte mein Bein aus dem Bett schwingen und schlug stattdessen hart mit dem Hacken auf dem Boden auf. Ein gleißender Schmerz schoss mir in die Ferse, hoch über die Nervenstränge bis in meine Hüfte ließ mich von einer Sekunde auf die andere wachwerden.
Autsch... Das... hatte mehr als nur geschmerzt.
Mein Gehirn schien noch ein wenig zu brauchen, bis es die Situation einordnen konnte. Warum der Abstand zwischen Bett und Boden so gering war. Warum es sich viel härter anfühlte als sonst... Ah, genau!
Ich war ja auch gar nicht bei mir zu Hause. Ich war bei...

Draußen, auf dem Flur, begann es zu rumoren und ich nahm mein Telefon in die Hand, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Sechs Uhr. Das Gesicht verziehend, setzte ich mich im Futon auf.
Der Unterricht begann erst gegen halb neun... Aber im Bad, was neben dem Gästezimmer lag – also meinem –, ging es bereits lebhaft zu, und auch in der Küche hörte ich es brutzeln und Geschirr klappern. Weiterschlafen könnte ich demnach eh nicht. Ich streckte mich und begann ein wenig meine Seiten und meinen Nacken zu dehnen. Alles tat mir weh. Trotz des weichen Futons spürte ich leider den Boden zu gut in meinen Knochen und Muskeln. Das würde wohl auch noch etwas dauern, bis ich mich dran gewöhnte.

Mir den Bügel mit meiner Schuluniform nehmend, wartete ich, bis das Bad frei wurde, und schlüpfte hinein. Ich wusch mich, zog mir dann die helle Bluse über, achtete darauf, dass sie richtig zugeknöpft war – denn das bekam ich am Morgen gerne mal falsch hin – und zog mir den beigen Pullunder über.
Ab in den Rock, Kniestrümpfe an und... mein Blick fiel auf die bordeauxrote Schleife und verweilte eine Weile auf dieser, als würde sie mir in jenem Moment etwas zuflüstern. Natürlich tat sie das nicht.
Ich nahm sie in die Hand und band sie mir um den Kragen, ließ den kleinen Plastikverschluss am Nacken einrasten. Ihre Position richtend, schaute ich in den Spiegel. Das war so... mädchenhaft-ungewohnt-streng. Zu viel.
Also knöpfte ich mir den ersten Knopf meines Hemdes auf. Die Schleife wurde etwas tiefer gezogen. Besser.
Einen Schritt zurücktretend, sah ich mein Spiegelbild fragend an, nickte dann aber.
Okay. Das ging schon.
Ich trug mein Make-Up auf, bürstete mir die Haare und band zwei Strähnen der Seiten nach hinten zurück. Als ich wieder aus dem Bad kam, huschte Seira an mir vorbei:
„Ach, V/N-chan, guten Morgen!", wünschte sie mir mit einem Lächeln und ich glaubte nun zu wissen, von wem es ihr Sohn es hatte, Leuten irgendwelche Suffixe oder Spitznamen zu geben. Dann guckte sie mich von oben bis unten an und ihre Lächeln wurde nur umso Größer,
„Dir steht die Uniform wirklich gut", lobte sie und winkte mir daraufhin verabschiedend zu,
„Bis heute Abend dann! Ich muss los! Habt viel Spaß nachher!"
Ihr ebenso einen schönen Tag wünschend, trat ich den Weg zur Küche an.
Seira war also schon so früh auf und unterwegs? Was sie wohl arbeitete? Unter der Jacke hatte ich keinen Hosenanzug oder Ähnliches hervorblitzen sehen. Sie war weitaus legerer, wenn dennoch immer noch feminin mit einem hübsch gemusterten Shirt, gekleidet, und ihre braunen, welligen Haare hatte sie ebenso offengelassen.
Wäre Oikawa Tooru ein Mädchen, hätte er gewiss genau so ausgesehen. Dann hätte er keine Fangirls, aber so einige Fanboys.
Es bescherte mir ein kleines Schmunzeln auf den Lippen, als ich in die Küche trat, wo Kenzaburou am Tisch saß, seine Augen über die schwarzgedruckten Zeilen einer Zeitung fliegen ließ und dabei seinen Kaffee trank. Anscheinend hatte er etwas mehr Zeit als seine Frau.
„Guten Morgen", begrüßte ich ihn, noch unwissend, ob er einer der Leute war, die morgens lieber schwiegen oder redeten.
„Morgen, V/N-san! Komm her, setz dich. Willst du einen Kaffee?"
Ich nickte zaghaft, ging zu dem Esstisch und setzte mich, während er die Zeitung wegpackte, aufstand und mir eine Tasse holte.
„Was magst du zum Frühstück? Wir sollten uns nachher mal drüber unterhalten, schließlich kennen wir dich ja kaum", lachte er und wieder hatte ich das Gefühl meinen Klassenkameraden vor Augen zu haben. Nicht seine Stimme, die natürlich weitaus tiefer war, sondern die charismatische Ausstrahlung. Wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen. Ob Oikawa später wohl auch einmal so aussehen würde? Diese Grübchen um die Augenwinkel tragend? Graue Haare bekommend? Oder wäre er einer Derjenigen, welche sich glücklich schätzen und nicht mal an graue Haare denken müssten? Schon seltsam, wie ähnlich man seinen Eltern sein konnte. Aber das sollte ich meinem Klassenkameraden lieber nicht auf die Nase binden.
„Ehm... morgens ich esse meist L/E. Aber ansonsten nehme ich natürlich das, was da ist!!", hob ich schnell die Hände, „N-Nur keine Umstände!"
„Damit sollten wir ab morgen dienen können!", lachte Kenzaburou wieder und kam schließlich mit einer gefüllten, gut riechenden Tasse Kaffee wieder. Zu dieser erhielt ich ebenso eine warme Schüssel Reis mit ein paar übriggebliebenen Beilagen des gestrigen, leckeren Abendessens. Ich fand es gut, dass Oikawas Familie nicht so verschwenderisch war wie meine Mutter: Was am Abend nicht gegessen wurde, landete bei ihr im Müll, nicht im Kühlschrank.
Wir redeten nicht großartig weiter miteinander. Er genoss seine Zeit, die Zeitung zu studieren, und ich einfach die Ruhe, die der Morgen mit sich brachte. Ein bisschen Müdigkeit schlich sich zudem noch ein, und mein Blick verharrte so teilweise einfach nur auf unsichtbare Punkte an der Wand.
„Du hast heute aber nicht auch Training, oder?", erkundigte sich mein Gegenüber dann und sah mich über die Zeitung hinweg kurz an.
„Nein, die Mädchen haben nur nachmittags Club", antwortete ich zwischen zwei Bissen.
„Ah, verstehe."
Das hieß also, dass sein Sohn Morgentraining mit dem Team hatte?
Wo war er dann überhaupt?
„Wenn er sich nicht beeilt, wird er noch zu spät kommen" murmelte Kenzaburou, als hätte er meine Gedanken gelesen, und schlürfte von seiner eigenen Tasse Kaffee.
In diesem Moment ging die Tür auf und Oikawa Junior kam herein. Er wirkte leicht verschlafen, rieb sich die Augen, welche er kaum richtig aufbekam.
„Morgen, hast du wieder bis spät über dem Handy gehangen?", hob sein Vater skeptisch die Augenbrauen.
Mein Klassenkamerad brauchte ein wenig mit der Antwort, gähnte stattdessen erst einmal.
„Habe ich nicht", murmelte er schließlich und begab sich direkt zur Küchenzeile, um sich etwas vorzubereiten.
Als er zu uns herüberkam, setzte er sich auf den Platz neben mir an die Ecke.
Reflexartig legte sich meine Hand vertuschend auf die Schleife und ich drehte ihm etwas die Schulter zu.
Meine Sorge war dabei total unbegründet. Er war so verschlafen, dass er kaum etwas um sich herum wahrnahm. Wie ein Pferd mit Scheuklappen.
„Bringst du nachher bitte noch Tofu mit? Wir hatten den gestern beim Einkaufen vergessen", bat Kenzaburou ihn und erhielt ein kurzes Brummen als Antwort. War das ein Ja?

So wie du bist (OikawaxReader)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt