[12.2] Balanceakt

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Sein Blick war Gold wert, als er mich am Frühstückstisch im Trainingsanzug sah. Ich konnte Tooru an der Nasenspitze ablesen, dass er wohl gehofft hatte, mich jetzt schon in einem süßen Outfit zu sehen.
Zu berechenbar, mein Bester.
Den Gefallen tat ich ihm also nicht. Erst einmal. Warum auch? Schon rein praktisch betrachtet, wäre es doch Schwachsinn, mich jetzt herzurichten, wenn ich in einer Stunde in der Turnhalle stünde!
„Ihr habt heute frei, oder? Unternehmt ihr was Schönes?", fragte Seira uns, als wir zu dritt am Frühstückstisch über Kaffee, Toast und Aufstrichen gebeugt saßen. Sein Vater hatte sich bereits auf dem Weg zur Arbeit gemacht.
„Wir gehen nach dem Training in die Stadt", antwortete ich mit freudigem Unterton und trank dann einen Schluck aus meiner noch dampfenden Tasse.
„Oh, das hört sich gut an!", lachte sie und es schien mir fast schon so, als wollte sie wohl am liebsten mitkommen, „Tooru, du gehst mit ihr sicher zum AER Gebäude?"
„Ja... auch...", hatte der Angesprochene seinen Blick noch immer nicht von mir genommen und schob stattdessen schmollend die Unterlippe vor, bevor er ebenso von seinem Kaffee schlürfte – mit extra viel Milch. Anders bekam er ihn nicht runter. (Warum er sich überhaupt dazu überredete, das würde ich ihn mal fragen müssen!)
Ich hingegen tat so, als würde sein gedankliches Blubbern nicht bemerken und biss genüsslich in meine goldbraune Toastscheibe mit L/E-aufstrich.

Tja, und so schmollte Tooru selbst dann noch, als wir bereits auf dem Weg zur Schule waren. Doch selbst, wenn ich ihn darauf ansprach, was seine Miesepeterstimmung sollte, kam keine aussagekräftige Antwort.
Nur ein „Nein, es ist nichts!" und ein „Was soll schon sein?", so dass ich mit den Schultern zuckte und ihn weiterhin die beleidigte Leberwurst spielen ließ.

Unser Morgentraining verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse. Die Jungs waren engagiert, spielten voll konzentriert und wir hatten einige kleine Erfolge erzielt, welche die Stimmung zu pushen wussten:
Sei es nun, dass Yahaba ruhiger und damit zielbewusster selbst die Schnellangriffe zuspielte, oder aber dass Kindaichis Angriffe besser platziert waren. All dies waren kleine Fortschritte und somit weitere Stufen auf dem Weg nach oben zu unserem großen Ziel: die Nationalmeisterschaften in Tokyo.
Mit guter Stimmung beendeten wir die Einheit und bauten das Feld ab. Einige vom Team redeten über ihre Nachmittagspläne und ich schmunzelte ein bisschen in mich hinein, wenn ich an meine eigenen dachte.
Tooru einen kurzen Blick zuwerfend, hatte er die Unterlippe immer noch nicht komplett wieder zurückgezogen, aber immerhin war er nicht mehr derselbe Grummelbär wie am Frühstückstisch. Nun gut, dann sollte ich mich jetzt auch bemühen, seine Laune wieder zu heben?

In der Umkleide schlüpfte ich fix aus meinen Sportsachen und sprang unter die Dusche, bedacht darauf, dass meine Haare trocken blieben. Ich hatte keinen Nerv, diese jetzt noch mit den schlechten Fönen der Schule zu strapazieren. Meine Lieblingsmelodie summend, genoss ich den warmen Schauer und spürte nun auch leichte Nervosität in mir hochkommen. Tooru hatte mir keinerlei Hinweise gegeben, was wir unternehmen würden – außer, dass wir eben mit der Bahn in die Innenstadt fuhren und ich deswegen meine Monatskarte einpacken sollte. Und dass es wohl zu diesem großen Gebäude gehen sollte, von dem Seira gesprochen hatte.
Schließlich wieder aus der Duschanlage tretend, trocknete ich mich rasch ab und zog mir dann die mitgebrachten Klamotten an, welche ich sorgsam in meiner Tasche gelagert hielt. Ich blickte in einen der horizontalen Spiegel, welche über den Waschbecken angebracht waren:
Ich hatte mich für eine einfache, helle langärmlige Bluse entschieden, die einen Rundkragen besaß und trug darüber einen taillierten L/F-farbigen Blazer. Ein schwarzer in A-Form geschnittener Rock umspielte meine Taille und endete zwei Handbreit über meine Knie. Wegen der zunehmenden Kälte trug ich schwarze Overkneestrümpfe und flache enganliegende Boots in L/F.
Meine kleine Schminktasche in die Hand nehmend, suchte ich in dieser die goldene Haarspange, welche ich heute Morgen noch schnell eingepackt hatte. Den zusammengeklappten Reisekamm öffnend, glättete ich meine Zotteln und befestigte die Spange dann behutsam auf einer Seite in meinen Haaren, so dass sie mir die Strähnen zurückhalten würde.
Mich nun mehr um mein Make-Up kümmernd, legte ich einen L/F Lidschatten auf, zog einen zart geschwungenen schwarzen Lidstrich mit meinem Eyeliner und nutzte ein wenig Mascara, um meine Wimpern zu betonen. Dann folgte zum Abschluss ein roter Lippenstift, welcher dezent genug war, als dass man mich nicht wie eine Rettungsboje auf zehn Meter Entfernung ersichten könnte. Noch einmal in den Spiegel gesehen... Doch.
Heute fand ich mich wirklich hübsch.
Ich nahm mein Handy hervor, machte ein Foto und wollte es automatisch an Tetsu schicken – so wie ich es sonst auch immer tat, war es schließlich eine alte Gewohnheit – aber hielt in der letzten Sekunde inne.
Nein, das sollte ich nicht tun. Mein Gefühl sagte mir, dass es nur alles verkomplizieren würde. Ich konnte ihm kaum solch ein Foto schicken, ohne mit der Wahrheit herauszurücken. Dass ich mit meinem Freund unterwegs war. Mit Oikawa Tooru. Weder das eine, noch das andere war ihm bekannt...
Stattdessen bekam es Kenma, mit dem ich gestern ja darüber gesprochen hatte.

So wie du bist (OikawaxReader)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt