[1] Irgendwo... verloren

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Play TRACK 01 >> Uso to Hontou (Piano Solo)

Miyagi. Sendai, 368 Kilometer von Tokyo entfernt.
Sofern man Google Maps Glauben schenken mochte und nicht genau nachrechnete.
Ich verzog den Mund als ich im Zug aus dem Fenster sah, meiner Musik lauschte, und wir uns immer näher an das neue Ziel herantasteten. Am liebsten hätte ich die Notbremse gezogen und wäre wieder zurückgefahren – aber mitgehangen, mitgefangen:
Ich gehörte seit Anfang des Jahres zu der Kategorie Scheidungskinder und obwohl ich in Tokyo hatte bleiben wollen, hatte man meiner Mutter das Sorgerecht zugesprochen. Mein Vater blieb in der Hauptstadt, setzte sein Leben wie gewohnt fort, während ich mir jetzt ungewollt ein neues aufbauen musste. Es widerstrebte mir so sehr, doch trotz dessen, dass ich bald 18 Jahre alt wurde, hatte man mir keine Wahl gelassen. Deine Mutter kann besser für dich sorgen. Sie hat einen geregelten Schichtplan. Die Mutter ist unsagbar wichtig als Bezugsperson für ein Mädchen. Bla, bla, bla.
Wie oft hatte ich mir das anhören müssen? Ob nun von den Anwälten meiner Mutter oder von den beratenden Familienstellen.
Letzten Endes saß ich nun also hier im Zug mit ihr, und wir fuhren unserem neuen Zuhause entgegen. Schweigend.
Ich hatte mir vorgenommen, mit ihr kein Wort zu reden. Genauso wie es mit meinem Vater hielt.
Ich war einfach sauer auf beide.
Sie verstanden sich nicht mehr und ich musste darunter leiden! Im dritten Jahr die Oberschule zu wechseln war auch nicht gerade vorteilhaft. Und als wäre das nicht genug, nutzte meine Mutter die Gunst der Stunde und schickte mich auch noch auf eine Privatschule. Die normale staatliche reichte der Architektin für Landschafts- und Gartenbau ja nicht.

„In wenigen Minuten erreichen wir Sendai. In wenigen Minuten erreichen wir Sendai. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und bedanken uns, dass Sie den Nozomi-Shinkansen der JR Tohoku Line genutzt haben. Auf Wiedersehen!"

Die ganze Zeit hatte ich mit einer Strähne meiner H/F langen, glatten Haare gespielt, hatte sie zwischen Daumen- und Zeigefinger gedreht, doch hielt ich nun inne.
Es wurde ernst.

Kaum erreichten wir den Hauptbahnhof der Stadt, hetzte mich meine Mutter vom Bahnsteig mit unseren Koffern zum Taxistand. Sie nannte dem Fahrer wirsch eine Adresse und schon ging es los.
Die meisten unserer Möbel und Habseligkeiten hatte sie bereits mit einer Umzugsfirma vorgeschickt, so dass wir nur noch mit unseren sieben Sachen unterwegs waren.
Ich kam mir vor wie ein Tourist, als ich durch die geschäftigen Straßen gefahren wurde, von denen ich keine einzige kannte. In Tokyo hingegen war ich aufgewachsen, dort hatte ich mich wohlgefühlt.
Ich musste an meine Freunde denken, welche ich zurückließ. An ihre schockierten Gesichter als sie erfuhren, dass ich wegging. Vielleicht waren sie aber auch so geschockt gewesen, weil ich die Scheidung meiner Eltern bis zum letzten Augenblick für mich behalten hatte? Ich hatte sie nicht hineinziehen wollen. Helfen hätten sie mir eh nicht können, denn es war die Entscheidung von zwei Erwachsenen, nicht meine. Ich war nur das Kind.

„V/N, steig aus. Wir sind da", erklang die strenge Stimme meiner Mutter und ich tat griesgrämig, wie mir befohlen. In meinen Gedanken steckend, war mir komplett entgangen, dass wir nach einer halben Stunde angehalten hatten und uns inzwischen nicht mehr in der aufregenden Innenstadt befanden, sondern in einem ruhigeren Randbezirk. Eine Wohnsiedlung.
Meine A/F Augen guckten sich neugierig um, checkten die Atmosphäre: ruhig, viele Einfamilienhäuser, alle weniger traditionell japanisch sondern recht westlich ausgerichtet. Und wenn doch ein traditionelles Anwesen darunter war, ließen die Toreinfahrten und messingfarbigen Namensschilder vermuten, dass es sich um wohlhabende Familien handelte. Ich schnaufte verärgert die Luft aus. Das war so viel anders als in Tokyo. So ganz anders.
Unser neues Haus trug eierschalenfarbene Wände, war in jenem modernen japanischen Stil erbaut, wie meine Mutter diesen nur zu gern konzipierte: An der Front neben der Tür nur ein schmales breites Fenster mit dunklem Rahmen. Vermutlich lag dahinter der Genkan. Der Eingangsbereich zum Schuheausziehen. Der Weg bis zur Haustür selbst war mit großen Steinen geebnet, ähnlich wie bei einem Zen-Garten. Links und rechts vom hellen Pfad befanden sich gepflanzte Büsche. Ordentlich geschnitten, kein Blatt, das abstand. Die Tür war auch dunklem Ebenholz, schwerfällig und farblos lackiert.
Meine Mutter war bereits vorangegangen und steckte den Schlüssel ins Schloss – ein hochmodernes Sicherheitsschloss natürlich –, drehte ihn herum und schon eröffnete sich mir mein neues Leben.

Ich war überrascht, dass das meiste unseres Besitzes bereits seinen festen Platz gefunden hatte: Die alte eichenholzfarbige Kommode, welche direkt an der Vorzone im Korridor anschloss, die alten Bilderrahmen mit meinen Kinderfotos. Gewiss würde ich noch mehr entdecken, wenn ich nur lange genug danach suchte. Doch ebenso hatte sie viel Neues gekauft: Die Hausschuhe, die weitaus weniger flauschig und bequem wirkten als unsere alten. Der Schirmständer, der aus eisernen Stangen bestand und an einer Umzäunung für einen Baum erinnerte. Der Korridor-Vorleger in grauen Streifen. Es ließ mich weiter die Nase rümpfen. Alles roch so neu und berührt. Plastisch.
„Du kannst deinen Koffer schon nach oben tragen, wenn du willst, V/N", erklärte meine Mutter mit einem ermüdeten Seufzer, legte den Schlüssel in die vorgesehene Schale auf der Kommode und schlüpfte elegant aus ihren flachen Pumps, ehe sie über den Flur ging und dann mit einem Mal links in einem Raum verschwand. Ich hörte es klappern, Glasgeräusche. Vermutlich war dort die Küche.
„Ich habe außerdem deine Schuluniform bereits rausgehängt. Bis morgen wären die Falten nie raus gegangen!" Ja, ich weiß. Ich habe sie auch mit Absicht zusammengeknüllt, aber da war meine Mutter wieder schlauer gewesen. Ich hatte so gar keinen Bock auf diese Schule!
Meinen Koffer, der schwerer war als gedacht, über die Treppenstufen in die obere Etage hievend, musste ich mir bei jedem Aufkommen auf die Stufen ein weiteres „Pass auf das Holz auf!", anhören, welches ich nur mit einem stummen Augenrollen kommentierte. Dann soll sie doch diese Treppenstufenschutzteile anbringen. War eh viel zu rutschig!
Aber ja... meine Mutter hatte nichts dem Zufall überlassen. Alles war perfekt vorbereitet.
Sich ins gemachte Nest setzen fiel mir da als Spruch ein.
Nur wollte ich das nicht.

Nach achtzehn Stufen oben, sah ich mich wieder fraglich um. Den Türen nach befanden sich hier nur drei Zimmer. Eins davon war gewiss das Schlafzimmer meiner Mutter, dann noch ein Zimmer...
Ich tastete mich vorsichtig heran und blieb vor der dritten, angelehnten Tür stehen. Mein Zimmer.
Ich erkannte meinen runden L/F Teppichläufer, den ich unbedingt hatte mitnehmen wollen.
Einmal durchatmend trat ich schließlich ein und mein Herz wurde mit einem Mal noch viel, viel schwerer. Ich fühlte, wie mir die Luft zum Atmen wegblieb. Alles schrie danach: Das ist nicht mein Zimmer.
Denn dies war einfach die Wahrheit: Nichts von all dem würde mein Zimmer sein. Es war so kalt und neutral gestaltet. Die Vorhänge in beige. Die Möbel modern und funktional. So...erwachsen.
Natürlich lag dies auch an meinen Habseligkeiten, welche noch in Kisten an der Wand standen, aber... auch ohne Bilder, Poster und Bücher in den Regalen, fühlte ich mich wie ein Hotelgast.
Ich ließ meinen Koffer einfach mitten im Raum stehen und schlurfte zum Bett. Setzte mich auf dieses, ebenso neue, und strich über die Decke.
„Herzlich Willkommen in Sendai, V/N. Ab heute beginnt dein neues Leben!", murmelte ich niedergeschlagen. Wie sollte ich hier glücklich werden?

So wie du bist (OikawaxReader)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt