1

170 17 15
                                    

Ich hatte ihr gesagt, es wäre eine schreckliche Idee.
Das habe ich wirklich.
Aber auf mich hat ja niemand gehört.

Ich hatte es nicht einmal durch sie erfahren. Dabei hatte Aurelia mir versprochen, mir als erste Bescheid zu geben, falls sie sich wirklich für die Selection entscheiden würde. Stattdessen hatte ich es von Officer Todd erfahren, der es von einer Beraterin hatte, die von meiner Mutter gesagt bekomme hatte, was Sache war.

Aurelia würde in zwei Monaten ihre Selection abhalten. Obwohl ich ihr davon abgeraten hatte.

"Bess?"

Ich schreckte auf. Nachdem Officer Todd, der soetwas wie ein Onkel für mich war - es war eine lange Geschichte - , mir die Neuigkeiten illegaler Weise übermittelt hatte, war ich eingeschnappt auf mein Zimmer gestürmt, hatte meine Zofen in den Feierabend entlassen und war schmollend meiner Lieblingsbeschäftigung nachgegangen - dem Nichtstun.
Etwas, worin ich ausnahmsweise  besser als meine Schwester war. Vermutlich war es deshalb gerade jetzt meine Lieblingsaktivität.

An der Tür stand Rick. Unsicher, ob er eintreten solle oder nicht, hielt er noch immer die Türklinke in der Hand, mit der anderen hatte er sich gegen den Türrahmen gelehnt. Ich sah nur seinen Kopf und Oberkörper, den er in mein Zimmer gestreckt hatte, doch das reichte meinem Herz völlig, um etwas schneller zu schlagen.
Ich lächelte.

"Rick!", trällerte ich nun wieder gut gelaunt, als wären alle meine Probleme mit einem Mal dahin und als würden in zwei Monaten hier nicht 35 unterbelichtete Schwachmaten aufkreuzen.

Ricks Ausdruck änderte sich schlagartig, als er meine gute Laune bemerkte. Er grinste, kam komplett in mein Zimmer und breitete die Arme aus, um mich freudig zu begrüßen. Schnaufend ließ ich mich gegen ihn fallen. In den letzten Wochen war er mein Anker gewesen. Mein Fels in der Brandung. Er war das beste, was mir hätte passieren können.

"Wie geht es dir, Prinzessin?", fragte er, während er mich an sich drückte. "Prima", nuschelte ich gegen seinen Hals und er lachte. Er lachte sein wunderbares Lachen, und die Selection rückte noch weiter in den Hintergrund. Ich drückte ihn von mir, um ihn ansehen zu können.

Rick Noah Edison. Er lächelte mich an, seine Augen funkelten grün wie das Morgentau, das draußen auf der Wiese stand, wenn es nachts geregnet hatte. Dort hatte ich ihn das erste mal richtig wahrgenommen. Die Sonne ging gerade auf, das hatte ich mir nicht entgehen lassen wollen. Ich war raus in den Garten gerannt, barfuß, das Tau hatte meine Füße gekühlt. Und dann stand er da auf einmal. Ich hatte immer gedacht, nichts war vollkommen, aber so, wie er da stand, wusste ich, dass es gelogen war.

Das war jetzt knapp fünf Monate her.

Hätte mir vor sechs Monaten jemand gesagt, dass ich für den Sohn eines Beraters meines Vaters schwärmen würde, ich hätte ihn ausgelacht.
Jetzt würde ich glückselig lächeln.

"Ich hab davon gehört. Von der Selection."

Und da war sie wieder, die blöde Gewissheit, dass ich nicht geträumt hatte. Ich verdrehte genervt die Augen.

"Mittlerweile muss es doch das gesamte Schloss wissen." Wobei das wohl nichts zur Sache tat. In wenigen Stunden würde es schließlich das ganze Volk wissen. Rick sah mich wehmütig an. Als ob er daran schuld wäre. Dummkopf.

"Aurelia wird wissen, was sie tut. Sie hat wunderbare Berater und ist nicht dumm, Bess. Wenn sie glaubt, das sei der richtige Weg, um ihr Glück zu finden, sollte sie ihn gehen."

Ich schnaufte. Die Wahrheit seiner Worte war erdrückend. Wieso verstand denn niemand, dass dieses Casting eine hirnrissige Idee war? Ich nahm Ricks Hand und zog ihn nach draußen auf meinen Balkon. China brachte Ablenkung. Süße Lichterketten waren um das Geländer gewickelt und ein kleines, gemütliches Sofa mit weißem Überzug stand dort. Mit der Eleganz einer Prinzessin, wie ich eine war, ließ ich mich darauf nieder und zog Rick mit runter.

Obwohl der Nachmittag bereits fortgeschritten war, war es noch immer warm. Der kühle März war gegangen und es vermochte ein warmer April zu werden. Ich schloss die Augen und genoss die Sonne auf meinem Gesicht. Der Winter war weder besonders kalt noch lange gewesen, und doch hatte ich die Sonne vermisst.

Rick neben mir kicherte. Ich musste komisch aussehen, so wie ich hier saß. Irgendwo unter uns hörte ich Aurelias Stimme. Es wunderte mich, dass sie gerade jetzt nicht viel zu tun hatte, aber möglicherweise begannen die Vorbereitungen auch erst morgen.

"Das wird ein aufregender Bericht werden." Ich grummelte etwas von Zustimmung. Das Volk der Deutschen Föderation würde erfreut sein über die Selection, die meine Schwester schon heute verkündigen würde. Nicht nur, dass Prinz Maxon von Illeá letzte Woche ebenfalls sein Casting angekündigt hatte, was schon alle erheitert hatte; jetzt würde auch die bezückende eingene Prinzessin eines veranstalten.

Ich liebte meine Schwester wirklich. Deshalb war ich ja auch so sauer, dass sie so etwas durchzog. Nur, weil es bei Mom und Dad geklappt hatte, musste es doch nicht gleich bedeuten, dass es auch bei ihr Erfolg zeigen würde! Vor allem, weil dieses Mal eine Frau das Casting veranstalten würde. Wer wusste schon, was für Gestalten hier auftauchen würden!

"Du solltest dir wirklich nicht zu viele Gedanken machen, Pi."

Ich blickte Rick an. Er kann Gedanken lesen, ging mir durch den Kopf. Und er benutzt deinen Spitznamen.

"Pi. Unendlich. Weil du immer in meinem Herzen bleiben wirst."

Ich musterte ihn. Seine etwas längeren, dunkelblonden Haare, die ihm in einem Mittelscheitel zur Seite hingen. Wie bei Jack in Titanic, einem uralten Film, den ich mal geschaut hatte. Seine Gesichtszüge, seine wunderschönen Augen, sein Lächeln.

Egal, was kommen würde, wusste ich, Rick würde an meiner Seite sein.

"Vielleicht wird das Casting ja ganz lustig", grinste er, und ich glaubte ihm.

Ich glaubte ihm, weil er Rick war, und ich Bess, und weil ich ihm vertraute.

Hätte ich mal besser nicht.

-

Let the story begin.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt