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Es war früh am Morgen gewesen, als Dad zu mir ins Zimmer gekommen und meine Anwesenheit in den Verließräumen direkt nach dem Frühstück erbittet hatte.

Er war gekommen, hatte es mir mitgeteilt und war wieder verschwunden, bevor ich irgendwelche Fragen hatte stellen können.

Dad war nicht beim Essen anwesend, und Mom wollte mir nicht sagen, was vorgefallen war. Aurelia hatte verwirrt dreingeschaut.

Die Sonne schien durch die breiten Fensterfronten des Ganges hinein, als ich mich auf den Weg machte. Ich war selten in den Verließräumen gewesen. Vielleicht hatte Mom Angst gehabt, dass ich bei dem Anblick von Kriminellen selbst einer werden könnte, jedenfalls hatte sie mir nie erlaubt, dort hinunter zu gehen.

Eine Wache folgte mir mit Abstand, wies mich manchmal auf den richtigen Weg hin, schwieg aber ansonsten. Nur seine starken Schritte waren hinter mir zu hören.

Die Wände wurden massiv, als ich rechts abbog und die Fenster kleiner wurden. Am Ende des Flures führte eine steinerne Treppe hinab zu den Verließen. Die Tür davor war offen; ein seltener Zustand. Doch zwei bewaffnete Männer in Uniform standen davor und verbeugten sich, als sie mich kommen sahen.

"Eure Majestät, der König wartet unten auf Sie", meinte einer der beiden und erhob sich wieder.

"Wissen Sie, was er von mir möchte?"

"Es tut mir leid, Majestät, aber er bat jeden, der von dem Vorfall weiß, absolutes Stillschweigen darüber zu wahren."

Ich runzelte die Stirn. Vorfall? Stillschweigen? Was war passiert, das so verschleiert werden sollte?

Ich nickte irritiert, passierte das kleine Tor und stieg vorsichtig die Wendeltreppe hinab. Mit jedem Schritt wurde es kälter, was auch die Fakeln an den Wänden nicht verhindern konnten. Kaum Sonnenlicht drang durch die kleinen Fenster hinein.

Als ich unten ankam, erstreckte sich vor mir ein schlichter Gang, auf dessen rechter Seiten dicke Türen eingelassen waren. Links war eine Einkerbung, in der zwei Betten und eine weitere Tür waren; ein provisorischer Schlafplatz für die Wachen.

Ich sah Dad auf den ersten Blick. Er war in ein Gespräch mit zwei Wachen vertieft und bemerkte mich erst, als ich bei ihnen stand.

"Bess. Gut, dass du da bist", meinte er und lächelte, doch seine Augen glänzten dabei nicht. Er sah müde aus, erschöpft von einer langen Nacht.

"Ich bin so schnell gekommen, wie es mir möglich war. Dabei weiß ich immer noch nicht, warum."

Dad nickte. Dann deutete er auf die zwei Wachen, die sich aus Respekt einige Meter entfernt hatten. Ich schaute zu ihnen und stockte für einen Moment, als ich sah, dass einer von ihnen Levi Wicher war. Er nickte mir zu.

"Wicher und Meyer hatten heute Nacht Dienst, als sie bemerkten, dass die Alarmanlage für den Nordquarter abgeschaltet war. Sie hatten keine Erklärung dafür und nahmen Kontakt zu den diensthabenden Wachen dort auf, doch sie konnten sie nicht erreichen. Deshalb sind sie selbst dorthin gegangen, haben die zwei aber nur bewusstlos am Eingang zum Nordturm gefunden."

Ich schaute erst Dad, dann Levi geschockt an. Die Alarmanlage war ausgeschaltet gewesen? Ein Eindringling, der zwei Wachen außer Gefecht gesetzt hatte?

"Oben auf dem Turm konnten sie den Mann festnehmen, der das zu verschulden hatte."

Deshalb war ich wohl hier. Ich blickte auf die Tür neben uns und das kleine Schildchen daneben, auf dem
Besetzt.
Unbekannt
stand.

Unbekannt? Das musste bedeuten, er hatte noch nichts über seine Identität preisgegeben.

Dads Blick ruhte immer noch auf mir, weshalb ich mich ihm wieder zuwandt.

"Er hat nach dir gefragt, Bess. Er meinte, er redet mit niemand anderem." Erstaunt sog ich die Luft ein. "Wir wissen weder, wie er heißt, noch seine Motive und ob er allein war oder vielleicht Teil einer Verschwörung."

"Du meinst die Rebellen?"

Er nickte und ich schluckte.
"Möglich. Aber wir haben keinen Anhaltspunkt dafür. Wir haben keinen Anhaltspunkt für irgendetwas, Bess. Deshalb diese Geheimhaltung. Vor allem wegen des Castings."

Stimmt, das Casting. Die Situation war verschärfter als sonst und in der Zelle hinter dieser Tür lauerte ein Unbekannter, der speziell mich hatte sprechen wollen.

"Du musst möglichst viele Informationen aus ihm herausbekommen. Traust du dir das zu?"

Nein.
"Natürlich."

Dad schien etwas zufriedener auszuschauen als vorher, während ich mit einem Mal nervös wurde.
Ich hatte noch nie einen Gefangenen verhört. Und schon gar nicht einen so eigenartigen Fall.

Ich warf noch einen Blick zu Levi, der mir ermutigend zulächelte, doch auch er schien etwas abwesend zu sein.

Dann öffnete Dad die Tür. Durch die zweite, die nur aus metallenen Stäben bestand, konnte ich nun den Mann erblicken.

Er war jung, jünger als erwartet, doch der Dreck und die Sorgenfalten in seinem Gesicht ließen ihn älter aussehen. Sein schwarzes Haar lag unordentlich auf seinem Kopf und wirbelte auf, als er schlagartig aufschaute. Die runde Brille auf seiner Nase hatte einen Sprung.

"Prinzessin Bess", murmelte er, erhob sich und erbrachte eine Verbeugung.
Meinen Vater, der direkt hinter mir stand, beachtete er gar nicht.

"Sir", sagte ich und kam mir dumm vor, weil ich seinen Namen nicht wusste und weil Sir wohl nicht die richtige Anrede für einen Gefangenen war.

"Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind."

"Es wäre mir lieber, wenn wir beide nicht hier sein müssten", erwiderte ich und tatsächlich schmunzelte er ein bisschen.

Vielleicht war ihm nicht bewusst, in welch heikler Lage er sich befand. Einbruch in königliche Besitztümer, Verletzungen von Sicherheitspersonal und sämtliche weitere Straftaten.

Er machte gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, als jemand mit hastigen Schritten auf uns zukam. Ich blickte nach rechts und sah Officer Markus Todd eilig auf uns zulaufen. Er bat Dad zuseite und redete bestimmt auf ihn ein. Dieser nickte ab und zu ruhig.

Als ich meinen Blick wieder zu dem Unbekannten richtete, starrte dieser mit besorgtem Aufdruck auf meinen Vater und Markus.

"Ist alles gut?", fragte ich ihn, doch bevor er antworten konnte, richtete Dad schon das Wort an mich.

"Bess? Ich werde Markus dringenderweise begleiten müssen, kommst du hier alleine klar?"

Überrascht nickte ich. Irgendwie machte es mich stolz, dass Dad mir es zutraute, diese Aufgabe allein zu bewältigen.

Kurze Zeit später war ich mit dem Fremden allein. Levi und die andere Wache waren den beiden gefolgt, nur an der Treppe standen noch zwei Männer zur Sicherheit.

Der Mann hatte Dad und seinem Anhang hinterhergeschaut, nun schluckte er und sah unsicher zu mir.

"Majestät, mein Name ist Tommy McMiller, ich arbeite allein und ich habe Informationen, die Ihnen in der nächsten Stunde das Leben retten könnten."

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt