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Später, tief in der Nacht, irgendwo im Palast

Das Mädchen in Zofentracht seufzte, während sie den Zettel, den einer der Nordrebellen ihr hatte zukommen lassen, erneut studierte. Sie wusste, von wem er kam, doch nicht, was er bedeuten sollte.

"Um Mitternacht scheinen die Sterne am hellsten.
Und der hellste Stern wird im höchsten Norden geboren.
Jedes Jahr wieder.
T."

Sie ließ sich an der Wand nieder. Ihr Zofenzimmer war klein und hatte kein Fenster, aber wenigstens war sie allein. Am Anfang war es ihr seltsam vorgekommen, nicht mehr das Atmen ihres besten Freundes T. beim Einschlafen zu hören, doch sie hatte sich daran gewöhnt.

Trotzdem vermisste sie ihn. Über zwei Monate waren vergangen, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, seitdem sie sich als Zofe im Schloss gemeldet hatte, um während des Castings auszuhelfen. Auszuhelfen. Informationen sammeln traf es in ihrem Fall wohl eher.

Und jetzt schickte er ihr diese ominöse Nachricht, mit der sie absolut nichts anzufangen wusste. Seit zwei Wochen versuchte sie herauszufinden, was er damit meinen könnte, doch war auf keinen Schluss gekommen.

Sie war nicht dumm, ganz im Gegenteil. In der Zeit, in der sie hier war, hatte sie bereits viel Nützliches herausgefunden, und wenn sie zurückkommen würde, würde sie von Danges eine Beförderung verlangen.

Danges war einer der Anführer der Nordrebellen und gewährte ihr einen Platz zum Unterkommen, seitdem ihre Eltern gestorben waren, als sie elf Jahre alt gewesen war. Er hatte sie ausgebildet. Und heute war sie einer der besten, auch wenn T. das niemals zugeben würde.

Man sieht, wohin mich das gebracht hat, dachte sie und pustete etwas Staub vom Schränkchen neben ihr. Es war spät. Sie hätte bereits im Bett liegen sollen, denn sie hatte morgen früh Schicht, doch sie konnte nicht. Zu fiel schwirrte in ihrem Kopf herum.

Die Nachricht. Die Südrebellen. Das Casting. Ihr Erwählter. Und T. Er hatte morgen Geburtstag. Unter normalen Umständen hätten sie Danges um ein wenig Geld gebeten, hätten sich frei genommen und wären in die kleine Kneipe unweit des Stützpunktes, in dem sie wohnten, gegangen, hätten sich ein Bier genehmigt und sich über die reichen Schnösel aus Kaste 1, 2 und 3 lustig gemacht.

Aber die Umstände waren nicht normal. Und die Zofe hätte Prinzessin Aurelia gerne dafür verurteilt, genau jetzt ein Casting zu veranstalten, doch sie wusste, dass sie das nicht dufte. Das Casting war eine riesige Chance für alle von ihnen; sie sollte ihr lieber dankbar sein.

Das Mädchen hiefte sich wieder auf und klopfte den Schmutz von ihrer Kleidung. Sie sollte morgen zu Maria, der oberen Zofe gehen, und sie um eine zweite Tracht bitten, damit sie die erste waschen würde können.

"Nicht, dass die werte Königsfamilie noch dreckig wird, wenn ich sie bediene", beschwerte sie sich leise und verzog leicht das Gesicht. Seitdem sie im Schloss war, hatte sie sich angewöhnt, sich bei ihr selbst über gewisse Dinge zu beklagen, denn sie wusste nicht, wem sie trauen konnte. Sie kannte nur wenige Nordrebellen im Palast, und selbst denen traute sie nicht über den Weg.

Sie traute generell fast niemandem über den Weg.

Der Zettel mit der Nachricht war zu Boden gefallen. Sie stand regungslos da und starrte ihn an, als würde sie hoffen, er würde von allein wieder in ihre Hand gleiten. Doch sie hoffte nicht. Es war etwas anderes, was sie je erstarren ließ. Mit einem Mal wusste sie, was der Brief zu bedeuten hatte.

"Um Mitternacht scheinen die Sterne am hellsten.
Und der hellste Stern wird im höchsten Norden geboren.
Jedes Jahr wieder.
T."

Der Nordstern. Die Nordrebellen. Mitternacht. Die Geburt, jedes Jahr wieder. Geburtstag. Der höchste Norden. Der hellste Stern. T. Er hatte immer behauptet, er sei das größte Talent, welches die Nordrebellen je hervorgebracht hatten. Er sei der Nordstern.

Das Mädchen schnappte sich einen Mantel.

T. würde sie treffen wollen. Im Nordturm, dem höchsten, nördlichen Punkt im Palast, um Mitternacht zum Tag seiner Geburt. Heute.

Rya riss ihre Tür auf und rannte los.

Zeitgleich, auf dem Nordturm des Palastes

T. schaute auf seine seine alte, zersplitterte Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Er war sich bereits sicher, dass Rya seine Nachricht entweder nicht erhalten, oder nicht entschlüsseln hatte können.

Ungeduldig tippte er mit seinem Schuh auf den harten Stein. Es war nicht schwer gewesen, sich bis hierhin vorzuarbeiten. Rya hatte sämtliche Geheimgänge und unbenutzte Korridore entdeckt, sodass er mit nur wenigen Problemen hierher gelangen konnte. Außer ihm war niemand dort.

Die Länder Berlins erstreckten sich weit unter ihm. Viele Lichter waren nicht mehr zu sehen, erloschen, was logisch war, wenn man bedachte, dass die Sperrstunde weit hinter ihm lag. Doch auch in dem schwachen Licht, das der Mond erbrachte, konnte T. deutlich die Reichenviertel von denen der Armen unterscheiden. Er fragte sich, wie der König damit leben konnte, jeden Tag diesen Blick zu haben und nichts dagegen zu unternehmen.

Seufzend fasste er sich an die Stirn. In seiner einfachen Kleidung fror er, obwohl es am Tage warm gewesen war. Eine kalte Brise wehte.

In wenigen Minuten würde er zwanzig Jahre alt sein. Ihm war nicht ganz klar, was er davon halten sollte. In diesem einzigen Jahr hatte sich wenig geändert, und T. befürchtete, dass sich auch im nächsten nichts tun würde.

Was, wenn der Erwählte der Nordrebellen aus dem Casting geworfen werden würde? Oder wenn er bei dem drohenden Angriff zu Schaden kommen würde? Er kniff fest die Zähne zusammen bei dem Gedanken, dass alles umsonst gewesen wäre.

Als T. Schritte hörte, horchte er auf. Er blickte sich um; der Nordturm war groß und hatte mehrere Zugänge.

Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht bei dem Gedanken, dass er Rya gleich wiedersehen würde.

Doch es war nicht Rya.

Der junge Mann riss erschrocken seine Augen auf, als eine männliche Stimme über das Platou hallte.

"Kommen Sie heraus, oder wir kommen zu Ihnen!"

Er schluckte. Noch konnte er niemanden sehen, doch es war klar, dass es eine Wache sein musste. Zwei. Er hatte wir gesagt. Aber woher hatten sie wissen können, dass er hier war? Welchen Fehler hatte er gemacht?

"Kommen Sie heraus!"

T. kniff so stark die Augen zusammen, dass es ihm weh tat. Er hatte nicht viel Zeit, nachzudenken. Dann traf er eine Entscheidung. In dem Moment, wo Rya hier rauf kommen würde, und er und die Wachen noch immer da sein würden, würde auch sie festgenommen werden. Das konnte er nicht zulassen.

Er griff in seine Hosentasche und holte den kleinen, silbernen Ring hervor. Ein kleiner Stern blitzte darauf auf. Mit einer flinken Bewegung und einem verzerrten Gesicht des Verlustes warf er ihn über das Geländer.

Dann hob er die Hände in die Luft und trat einige Schritte vor. Zwei Wachen hielten ihm ihre Gewehrläufe an den Kopf. Erst, als sie sich sicher waren, dass er unbewaffnet war, löste sich der eine aus seiner Starre und fasste seine Hände am Rücken zusammen.

T. bewegte sich kein Stück. Bitte, lass Rya sich verspäten, flehte er.

"Im Namen von König Brandon von Morgenstern sind Sie hiermit aufgrund von unbefugtem Betreten des Palastes und weiterer Vergehen Gefangener der Königsfamilie.", sagte die Wache, die vorhin schon geredet hatte, klar und deutlich, während die andere ihn nach vorne schubste.

"Bewegung!", murmelte der Mann hinter ihm, und er gehorchte. Sie stolperten davon.

Nur im Augenwinkel konnte T. die Tür sehen, die sich schwungvoll öffnete. Eine Frau erschien, ein breites Lächeln auf den Lippen, das je verblasste, als sie die drei Männer sah.

Rya schlug sich lautlos die Hände vor den Mund, während T. durch eine massive Holztür in das Innere des Palastes gezogen wurde.

Ich hab so lange an diesem Kapitel gesessen. Das ist der dritte Versuch...

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt