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"Bess!"

Nein.

"Bess, bleib stehen."

Nein!

"Bess!"

Ein Hand legte sich auf meine Schulter. Ricks Hand. Ich war an ihm vorbeigelaufen, hatte ihn ignoriert, doch ehe ich fort war, hatte er mich bemerkt.

"Lass mich!", zischte ich und schlug seine Hand von meiner Schulter. Er schaute mich geschockt an. Ich hatte noch nie in so einem Ton mit ihm geredet; lag vermutlich daran, dass wir nie gestritten hatten. Und nun hing eine unausgesprochene Trennung im Raum.
Für mich jedenfalls.

"Du verstehst das nicht, Bess!"

"Ach nein? Was bitte daran verstehe ich nicht?" Wütend fuhr ich mir durch meine braunen Haare. Sie waren zu lang. "Dein Name stand auf der Anmeldung, Rick! Und hätte Aurelia dich nicht gezogen, hätte ich es nie erfahren!" Aber Rick schüttelte nur den Kopf.

"Bess, nein!" Eine solche Verzweiflung lag in seiner Stimme, dass ich kurz vorm Einknicken war. Aber ich war eine Prinzessin. Ich war nicht dafür geboren, schwach zu werden.

"Doch, Rick. So einfach ist das."

"Bess. Bitte. Gib uns nicht so einfach auf", flehte er und legte seine Hand an meine Wange.

Nicht schwach werden, Bess. Nicht-

Ich schloss die Augen. Seine Hand war warm. Seine Stimme war sanft. So wie immer.

"Bess."

Aber wieso? Wieso hatte er es getan?

"Wieso, Rick?"

Ich spürte seinen Blick auf mir. Als ich ihn anschaute, lag Reue darin.

"Du wirst es bald verstehen."

"Was meinst du damit?"

Seine Hand verschwand und mit ihr die Wärme. Die Zuversicht, dass wir das klären könnten. Aber das konnten wir nicht.

"Es tut mir leid, Bess. Aber wenn du mir jetzt nicht glauben willst, muss ich darauf hoffen, dass du mir später glauben wirst. Bis dahin solltest du wissen, dass ich dich lie-"

"Stop!" Ich hob meine Hand. Das war zu viel für mich. Das konnte er nicht tun. Er konnte mich nicht so unter Druck setzen. Ich schüttelte den Kopf.

"Okay, Bess. Es ist okay." Er trat einige Schritte zurück. "Aber wenn es so weit ist...denke daran, ja? Ich flehe dich an!"

"Bis was so weit ist, Rick?"

Aber Rick lächelte nur. Warum zum Teufel lächelte er? Ich hätte ihn schlagen können. Vielleicht hätte ich es auch getan, wenn er sich nicht in diesem Moment weggedreht und gegangen wäre. Ich starrte ihm hinterher, seiner für mich ganz besonderen Gangart.

Ich war vollkommen verwirrt. Das war unerwartet. Doch noch viel überraschender war, dass ich nicht in Tränen ausbrach. Ich ging einfach weiter meinen Weg, während draußen die Welt unterging.

Ha, ich war eben doch eine richtige Prinzessin!

Zeitgleich, irgendwo in Deutschland

"Sind sie versprechend? Die Erwählten?"

Der grauhaarige Mann richtete sich an den hochgewachsenen Jungen.

"Allerdings. Wir haben einen drin. Ob andere uns unterstützen könnten, wird sich noch herausstellen. Aber Rya ist zuversichtlich."

Der Ältere nickte. Er saß an einem provisorischen Schreibtisch, dessen eines Bein kürzer war als die restlichen. Es roch seltsam. Nichts in diesem Raum schien wertvoll, außer den angefertigten Karten vor ihm. Karten, die reichten von den kleinen Stützpunkten bis zu den Gemächern der königlichen Familie.

"Das ist gut.", sagte der Grauhaarige nur und studierte weiter die Blätter, die Hände auf dem Tisch abgestützt. Die Falten auf seiner Stirn ließen ihn alt aussehen, doch war er, bevor der Krieg und der Hunger ihn gerichtet hatten, einmal ein gut aussehender Mann gewesen.

"Sichere Quellen haben uns zukommen lassen, dass die Südrebellen direkt zum Anfang des Castings einen Angriff starten wollen. Was sollen wir dagegen unternehmen?"

Der Junge schaute seinen Lehrer erwartungsvoll an. Seinem ganzen Leben lang war er ihm gefolgt, und er hätte seine Seele für ihn aufgegeben.

"Benachrichtigen Sie jemanden im Palast, unsere Leute müssen sicher sein."

"Und die Königsfamilie?"

"Sie dürfen nichts davon erfahren. Wir befinden uns in einer heiteren Situation, jeder Fehltritt könnte uns nun auffliegen lassen. Jemand von uns soll rechtzeitig den Alarm auslösen - das muss genügen, um größeren Schaden zu vermeiden. Und informieren Sie auf keinen Fall unseren Mann fürs Casting. Er darf nicht in Panik verfallen."

"Er ist einer unserer besten. Und unsere vielleicht einzige Chance."

Der Alte musterte seinen Lehrling finster. Seinen Schüler, seinen Sohn.

"Er darf es nicht wissen."

Einige Sekunden blickten die Männer sich scharf an. Schweigen erfüllte den Raum. Die alte Lampe an der Decke flackerte, als der Junge schließlich nickte und mit gesenktem Kopf das Zimmer verließ.

Mit zügigen Schritten ging er auf den Mann vor dem Haus zurück, von dem er die Neuigkeiten aus dem Schloss mitgeteilt bekommen hatte.

"Sir? Bitte setzten Sie nur unsere obersten Köpfe im Palast in Kenntnis. Halten Sie auch Stillschweigen gegenüber jeglichen Erwählten, sobald sie im Schloss ankommen. Und bringen Sie Rya diese Nachricht, bitte."

Er drückte dem Mann in unauffälliger Kleidung einen Umschlag in die Hand.

"Si", antwortete dieser und verstaute ihn in seinem grünen Umhang. Der Junge erhaschte einen Blick auf einen der Manschettenknöpfe am Ärmel des Mannes, auf denen in feinen Linien ein Stern eingeritzt war. Unauffällig.
So wie sie alle.

Wie lange es wohl noch so bleiben würde? Das Casting war die ideale Chance, etwas zu verändern. Dem Jungen war bewusst, dass sie nicht ewig mehr im Untergrund bleiben können würden - sie mussten sich zu erkennen geben. Die Welt brauchte ein Gesicht, nach dem sie sich wenden konnte. Vielleicht war es einer von ihnen; vielleicht musste es die Prinzessin sein.

Während der fast fremde Mann sich im Regen entfernte, schob der Junge seine runde Brille etwas höher. Er brauchte sie nicht. Das Glas war normales Fensterglas, doch ihm war bewusst, dass er, wenn es nötig sein würde, möglichst schnell sein Aussehen verändern würde müssen, und ohne Brille sah er fast aus wie ein anderer Mensch.

Er seufzte, während er das Schauspiel des Unwetters betrachtete und hoffte, dass alles bald vorbei sein würde.

Das Unwetter, das Versteckspiel und das Kastensystem.

Dann verschwand der Junge der Kaste Sechs wieder im schäbigen Haus.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt