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Ich versuchte, mir nicht einzubilden, dass Rick mich anstarrte, als Mico und Niklas aus Eastria sich ihren Weg zu uns bahnten - oder eher zu Aurelia.

Ich versuchte, mir seinen aussichtslosen Blick einzuprägen, damit ich ein anderes Bild von ihm im Kopf hatte als den perfekten Freund, zu dem Zeitpunkt, als Paul und Angel aus Hellenburg West Hände schüttelten und Blumen zugeworfen bekamen - Vergissmeinnicht, die Blumen ihrer Provinz.

Ich bin mir nicht sicher, wie, aber ich schaffte es.

"Und nun aus der Heimatprovinz meiner Mutter, die ihr zu Ehren nach ihr umbenannt wurde: Aus Valencia, Sir Dima und Sir Tom!"

Mom ließ einen Jubelschrei von sich und klatschte begeistert, was mich zum Schmunzeln brachte. Seitdem sie die Königin war, war Valencia wirtschaftlich unfassbar gewachsen, war einer der reichsten Provinzen der Deutschen Föderation, was sie unheimlich stolz machte.

Dass sie nicht arm waren, bewiesen auch die Kleidungsstücke der Jungen. Zu meiner Überraschung wirken aber beide doch ziemlich freundlich; Dima hatte ein ovales Gesicht und ein breites Lächeln, Tom grinste Aurelia schon von Weitem entgegen.

Schockend dagegen waren die nächsten Erwählten aus Souths. Beide hatten schwarze Jeans anstatt festlichen Hosen an, und ihre Hemden wirkten, als ob sie von ihren Vätern wären.

Mir war klar gewesen, dass Souths Geldmangel hatte. Wie oft hatte Dad darüber in seinen Reden gesprochen? Doch ich hätte mir nicht erträumen können, dass ihre Erwählten so hier aufkreuzen würden. Warum hatte man ihnen keine Kleidung geliehen?

Was aber noch viel überraschender war, war, dass zumindest einer von ihnen sich nicht davon einschüchtern ließ, dass hier alle besser gekleidet waren als er. Lexian. Er sah aus wie eine 6 und benahm sich wie eine 3, während Joris, fast im Partnerlook mit Lexian, so zurückgeschreckt wirkte wie eine 2, die gerade zur 8 gemacht wurde.

Ob er sich schämte?
Ob dieses Kastensystem gerecht war?
Ich wusste es nicht.

Beide wurden von Aurelia genauso empfangen wie alle anderen, doch neben den anderen würden sie aussehen wie schwarze Schafe. Zumindest Joris, das war mir klar.

Das letzte Auto fuhr vor.
Ein blonder, großer Junge stieg aus, ein anderer mit osteuropäischen Zügen folgte. Beide machten sich gut auf dem Weg zu Aurelia, doch Theo, so hieß der Blonde, machte es weitaus besser. Er erinnerte mich an Filmstars, so stolz schritt er dahin.

Aber es wurde noch besser.

Nachdem er von Aurelia willkommen geheißen wurde, und Howard, der andere Erwählte, sich bereits auf seinen Platz stellte, kam Theo auf mich und Chris zu. Die Kameras verfolgten jeden kleinen Schritt von ihm, ebenso wie meine Augen. Sogar Aurelia blickte sich irritiert zu uns um.

Vor uns kam er zum Stehen und lächelte breit, bevor er sich erst vor Chris und dann vor mir verbeugte. Das hatte noch keiner der Erwählten getan, und es stand auf keinem der Ablaufpläne, die ich gelesen hatte.

Als er sich wieder aufrichtete, trafen sich unsere Blicke. Seine grünen Augen glänzten; sie waren so anders als die Ricks. Dunkler.
Ich neigte ihm meinen Kopf zu und er ging dorthin, wo er eigentlich schon längst hätte stehen sollen.

Aurelia runzelte unmerklich die Stirn, bevor sie sich wieder dem Publikum und den Kameras zuwandt und zu sprechen begann.

"Liebes Volk der Deutschen Föderation! Hinter mir und meiner Familie stehen nun die 35 Männer, die mich in den nächsten Wochen besser kennenlernen werden. Sowohl Sie als auch ich haben sie nun zum ersten Mal gesehen - und ich habe einen wunderbaren ersten Eindruck! Sie auch?"

Die Menge tobte. Dad lachte.

"Das freut mich! Denn Sie alle werden Teil meiner Reise sein, Teil der Reise meines Lebens. Lassen Sie uns zusammen einen Mann finden, der mich lieben wird, wie meine Eltern sich lieben. Dankeschön!"

Unter Getöse drehte sie sich um und ging mit großen Schritten auf die Tore des Schlosses zu - meine Eltern, Chris und ich schlossen uns ihr an. Die Erwählten reihten sich hinter uns nach ihrer Provinz auf und folgten uns ins Innere der Gemäuer. Während sie jedoch in einen großen Saal geführt wurden, wo man sie mit Interviews und anderen Dingen bombardieren würde, wurden wir von den Wachen fort von ihnen geleitet.

Spät abends ließ ich mich erschöpft ins Bett fallen. Heute war der letzte Tag, an dem wir und die Erwählten getrennt gegessen hatten, und ich hatte sie kurz noch einmal verdrängen können, bis mir gerade ein verirrter Zayn aus Jordans über den Weg gelaufen war. Er hatte sich tief verneigt und nicht den Mut aufgebracht, mich nach dem Weg zu den Zimmern zu fragen.

Naja, selbst schuld.

"Weißt du, was ich nicht verstehe, Joleen?"

Die blonde Zofe schaute auf. Sie war gerade fertig mit ihrer Arbeit geworden, doch ich hatte sie gebeten, noch ein wenig zu bleiben. Jetzt saß sie auf meinem Schminkhocker und sah mich fragend an.

"Wieso läuft hier das Casting so anders ab?"

"Wie meinen Sie das, Mylady?"

Ich richtete mich auf und lehnte mich mit dem Rücken an mein Bettende, damit ich sie ansehen konnte.

"Prinz Maxon aus Illeá zum Beispiel. Bei ihm ist das Willkommen ganz anders. Eigentlich gibt es gar kein Willkommen. Die Mädchen kommen an, werden direkt ins Schloss manövriert und dann gibt's Interviews und ein Umstyling. Wieso machen wir das nicht auch einfach so?"

Joleen zuckte mit den Schultern. Eine große Hilfe, wirklich.

"Ich bin der Meinung, dass sie ihr Umstyling schon zu Hause erhalten, und Interviews werden im Wagen auf dem Weg geführt. So sagt man es sich unter uns Zofen."

Das konnte natürlich sein. Aber eine Frage beantwortete das nicht.

"Aber wieso stellt man ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht auch Kleidung für die Eröffnung? Manchmal konnte man sofort sehen, wer wohlhabend ist und wer nicht."

Darüber dachte Joleen länger nach. Jedenfalls sah es so aus, vielleicht überlegte sie sich auch nur, wie sie es mir beibringen konnte, ohne mich persönlich anzugreifen.

"Vielleicht, Mylady, sollen ja alle sehen, welcher Kaste die Erwählten angehören. Die Gesellschaft beruht auf diesem Kastensystem. Und auch, wenn Prinzessin Aurelia versucht, es zu vertuschen, indem sie die Kastenzugehörigkeit nicht explizit nennt, wird die Kaste später höchstwahrscheinlich ihre Wahl beeinflussen.
Sie wird die Wahl des Volkes beeinflussen.
Vielleicht, Mylady, ist ein Bauer nicht dazu gemacht, König zu werden. Ein Mann, der in ausgewaschenem Hemd vor die Prinzessin tritt, kann kein Land regieren."

Sie lächelte traurig und stand auf.

"Ich werde Sie morgen pünktlich wecken, wie immer. Gute Nacht, Mylady."

Und mit diesen Worten ließ sie mich allein. Allein, mit Fragen im Kopf, die ich mir noch nie zuvor gestellt hatte, und die mir kaum jemand hätte beantworten können.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt