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"Zahlreiche Anmeldungen sind bei uns eingegangen, seit ich vor knapp einem Monat das Casting verkündigt habe - das schmeichelt mir natürlich sehr."

Aurelia hielt das Mikrophon fest in der Hand, während sie sprach. Nachdem Philius sie angekündigt hatte, war sie leicht zitternd nach vorne gelaufen. Dieses Mal hatte sie keine Rede vorbereitet, sie improvisierte.

"Doch ich möchte auch noch einmal betonen, wie wichtig dieses Casting für mich ist. Und ich werde schnell merken, wer es nicht ernst nehmen wird. Deshalb hoffe ich doch, dass alle Besitzer der Namen, die ich nun ziehen werde, es wirklich gut mit mir meinen. Denn wenn nicht, nehmen Sie mir und jemandem da draußen die Chance, einen Menschen kennenzulernen, den man wahrhaftig lieben kann." Sie lächelte in die Runde. Alle schauten sie gespannt an, sogar Chris saß ruhig und abwartend neben mir.

"Aber genug mit den ernsten Worten!" Ich meinte, alle ausatmen zu hören. Mom, Dad, die Menschen im Saal und das ganze Volk.

"Wie Sie vielleicht bereits wissen, werden aus jedem Distrikt zwei junge Männer anreisen dürfen, aus einem sogar drei. Das liegt daran, dass das Königreich Illeá zur selben Zeit ein Casting veranstaltet, doch da es dort 35 Länder mit 35 Erwählten gibt, wollte man auch mir die Chance geben, eine solche Auswahl zu haben. Danken wir also alle Prinz Maxon von Illeá!" Einige lachten, Mom kicherte. Dabei mochte Aurelia Maxon nicht einmal wirklich.

Dann stritt Aurelia zu dem Korb ganz links von mir aus gesehen. New Bavaria stand in hübschen Buchstaben auf den kleinen Metallschildchen. Ich fragte mich, ob sie neu angefertigt oder schon bei der Selection von Mom und Dad benutzt worden waren.

"Dann wollen wir mal anfangen." Mit diesen Worten schaute sie ein letztes Mal in die Kameras, lächelte und zog einen Umschlag aus dem Korb.

Ein Diener kam von der Seite des Plateaus, wo bereits fünf Männer für die Umschläge standen. Er reichte Aurelia einen schmuckvollen Brieföffner, und gekonnt, weil sie es schon etliche Male getan hatte, öffnete sie den Umschlag. Nun zitterten ihre Hände doch ein wenig, aber ich glaubte nicht, dass irgendwer ihr das übel nehmen würde.

Mit einer Handbewegung zog sie das oberste Dokument aus dem Umschlag und hielt es hoch.

"Aus New Bavaria: Matthäus Triplet!"

Der Saal wurde erfüllt von Applaus und Klatschen, als auf einer Leinwand neben uns ein Bild eines jungen Mannes auftauchte; er hatte blonde, fast weiße Haare und Sommersprossen. Vermutlich waren seine Haare gefärbt.

Während es wieder leise wurde, ging Aurelia zum nächsten Korb. Wie es aussah, wollte sie erst alle Distrikte einmal bedienen und dann wieder von Vorne anfangen. Für die Spannung.

Der Vorgang wiederholte sich.

"Aus Saxen: Tobias Abel!"

Tobias war blauäugig, hatte verwuschelte, braune Haare und einige Unreinheiten im Gesicht.

Erneut Applaus, erneut wieder einkehrende Stille.

Und so ging es weiter. Ich betrachtete die Gesichter der Jungen und versuchte herauszufinden, mit wem Aurelia am Ende der Selection wohl vor dem Altar stehen würde.

Mico aus Eastria.

Nathaniel aus Jordans.

Pepe aus Little Italy.

Jonas aus Enden.

Wer kümmerte sich um die Nachnamen? Sobald sie hier sein würden, wären sie nur noch Sir Matthäus. Sir Jonas. Sir Nathaniel.

Keiner der Jungen stach besonders heraus. Ein paar vielleicht. Theo aus Threegen vielleicht. Er hatte ein breites Lächeln und wirkte ziemlich sympathisch. Oder Zariah aus Falina, aber auch nur, weil er der einzige war, der nicht lächelte.
Attraktiv war er trotzdem.

Als Aurelia laut "Berlin" ausrief, streckte ich automatisch meinen Rücken durch. Berlin, meine Heimatprovinz, war die einzige, die nach dem 4. Weltkrieg den gleichen Namen behielt, auch, wenn das Gebiet erweitert wurde. Hatte wohl etwas mit Kulturgut zu tun, jedenfalls hatte ich ich das so gelernt.

Ob ich den Namen des Jungen kannte?

Das Gesicht dazu?

"Marvel Simpson!"

Enttäuscht ließ ich mich zurückfallen. Diesen Namen hatte ich noch nie gehört, weder das Gesicht dazu gesehen. Vielleicht bei der nächsten Ziehung aus dem Berliner Gefäß.

Aurelia fing wieder von vorne an, die Umschläge der einzelnen Provinzen zu ziehen.

Ich fragte mich, wie die Jungen reagieren würden. Saßen sie gerade zu Hause, freuten sie sich? Oder arbeiteten sie noch? Mir fiel auf, dass Aurelia gar nicht die Kasten der Erwählten genannt hatte. Das brachte mich zum Schmunzeln. Scheinbar wollte sie wirklich mit keinen einzigen Vorurteilen ins Casting starten.

Es wurde nicht spannender. Es war zwar interessant, dabei zu sein, aber nichts wahr wirklich erwähnenswert.

Noch nicht.

Hätte ich es mir doch bloß nicht gewünscht.

Als meine Schwester ein zweites Mal vor dem Korb Berlins zum Stehen kam, stieg mein Puls erneut in die Höhe. Aufgeregt tippte ich mit dem Zeigefinger immer wieder gegen den Stuhl, wobei mein Armband hin und her hüpfte.

Wie in Zeitlupe zog Aurelia den braunen Umschlag aus dem Haufen. Zückte den Brieföffner, durchtrennte das dünne Papier. Ich bildete mir ein, das Reißen bis hier her zu hören. Wenn nicht mein Herzschlag lauter war als alles andere.

Aurelia nahm das Dokument in die Hand.

"Der zweite Kandidat aus Berlin heißt..." Sie stockte und kniff die Augen zusammen.

Warum stockte sie? Wessen Name stand auf diesem Blatt Papier, dass sie sich so aus der Bahn bringen ließ?

Ihr Blick zuckte zu mir. Eine Mischung aus Entsetzten, Überraschung und Mitleid lag darin. Irritiert zog ich meine Stirn kraus.

"Sein Name lautet..." Ein weiteres Mal unterbrach sie sich selbst.

Ein grünes Augenpaar aus dem Publikum heftete sich auf mich. Er war zu weit weg, um seinen Blick deuten zu können. Erst, als Aurelia endlich seinen Namen verlas, begriff ich.

Aber warum?

Warum tat er mir das an?

Er schüttelte leicht den Kopf. Als wolle er es mir ausreden, die Wahrheit. Hah! Die Wahrheit! Als ob er die noch leugnen konnte!

Wieso?

"Sein Name lautet Rick Noah Edison."

Ich nutzte den Trubel, der entstand, um mich zu erheben und aus dem Saal zu verschwinden.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt