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"Ich habe gehört, du willst heute schon die ersten nach Hause schicken", flüsterte ich Aurelia beim Frühstück am nächsten Morgen zu.

Statt wie gewohnt in kleiner Runde, saßen wir nun im Speisesaal, vor uns an zwei langen Tischen die Erwählten.

"Stimmt. Der erste Eindruck zählt. Nach den Einzelgesprächen heute werde ich die ersten entlassen."

Ich fragte mich, wer gehen würde müssen. Aurelia hatte sich gestern bei keinem irgendwas anmerken lassen, doch es war mir zu blöd, sie zu fragen. Ich würde es ja sowieso am Nachmittag erfahren.

"Also ich könnte das nicht", murmelte ich und meine Schwester schmunzelte leicht.

"Doch, Bess, das könntest du. Du könntest auch ein Land regieren, wenn du dazu aufgefordert sein würdest."

Ich nickte benommen. Sie musste es ja wissen.
Schließlich war sie nicht immer als künftige Königin vorgesehen.

Kurz darauf erhob sie sich und lächelte mich an. "Die Gespräche fangen gleich nach dem Frühstück an. Sie werden im Garten warten. Wenn du willst, kannst du den Herren Gesellschaft leisten und mich später beraten."

Ganz bestimmt nicht.

"Mal sehen."

"Schön."

Sie verabschiedete sich von unseren Eltern und ging im Mittelgang zum Ausgang des Saals. Einige Erwählte starrten ihr hinterher.

Ich nutzte die Zeit, um sie mir besser anzuschauen. Sie alle waren nun ähnlich gekleidet, Anzughose und Hemd, und mir wurde bewusst, dass gestern wirklich die einzige Chance war, um ihre Kaste zu erfahren. Neben Verhaltensauffälligkeiten natürlich.

"Wer ist bisher dein Favorit, Bess?", fragte Dad über den leeren Platz von Aurelia hinweg. Ich saß links außen, neben mir Aurelia, dann kamen Dad und Mom und Chris war, wie ich enttäuscht festgestellt hatte, am weitesten von mir entfernt.

"Niemand. Ich finde alle doof", meinte ich und Dad verschluckte sich vor Lachen. Ein paar Leute sahen uns komisch an, darunter Erwählte.

"Niemand? 35 junge Männer und niemand sagt dir zu?"

Ich kniff meine Augen zusammen und mustere den König. War das eine Art Prüfung? Alle von ihnen waren, solange sie im Casting waren, Aurelia vorbehalten. Wenn sie sich nicht daran hielten, drohten Strafen.

"Niemand, Dad."

Höchstens einer.

Und ich hatte vergessen, Aurelia zu fragen, was mit ihm geschehen würde.

Ich hatte wirklich nicht vor, die Spionin für meine Schwester zu spielen. Aber was konnte ich denn dafür, wenn meine Zofen so lange auf mich einredeten, die Jungen besser kennenzulernen und meinen eigenen Nutzen aus dem Casting zu ziehen - Freunde zu finden - , bis ich angenervt aufgestanden und mich, zu ihrer Zufriedenheit, in Richtung Garten aufgemacht hatte?

Keine Ahnung, was ich hier mache, dachte ich mir, als ich die Männer erblickte, die sich auf Decken und Bänken im Grünen niedergelassen hatten. Manche redeten miteinander, ein paar lasen und wieder andere liefen nervös herum.

Der Junge mit den braunen, schulterlangen Haaren, dessen Name mir entfallen war, erblickte mich als Erster. Er stupste seinen Gesprächspartner, den dunkelhäutigen Jungen aus Auria, an, der sich daraufhin hastig verbeugte.
Nach und nach taten das alle.

"Guten Morgen", meinte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen.

Toll. Jetzt stand ich hier vor sämtlichen Menschen, die mich alle erwartungsvoll anschauten, und hatte nicht den leisesten Schimmer, was ich machen sollte.

"Sie ... dürfen sich wieder setzten", stotterte ich und - Gott sei Dank - gingen fast alle wieder ihren Beschäftigungen nach.

Der Junge, der zuerst auf mich aufmerksam geworden war, kam auch mich zu.

"Majestät. Es ist mir eine Ehre", sagte er und hätte sich wieder verbeugt, wenn ich ihn nicht mit einer Handbewegung davon abgehalten hätte. Verwirrt schaute er mich an.

"Heben Sie sich die Feinheiten für meine Schwester auf. Sie gibt darauf mehr acht als ich."

Er begann zu lächeln, hielt mir aber trotzdem eine Hand hin, die ich nahm und leicht schüttelte.

"Tut mir leid, wie ist Ihr Name noch einmal?"

"Cassian. Aus Central Hellenburg. Eine 4."

Ich zuckte zusammen. Wieso genau nannte er mir seine Kaste? War es etwa so üblich, die bei einer Vorstellung Preis zu geben?

Ich hatte ihn wohl ziemlich schräg angestarrt, denn er fing an zu lachen, verbeugte sich und ging zurück zu seinen Freunden. Wenn es Freunde waren.

Cassian, sagte ich mir, während ich auf eine kleine, von den anderen abgeschottete Gruppe zusteuerte.
Cassian.
Ich würde Aurelia sagen, dass er bleiben sollte. Er war mir jetzt schon  sympathisch.

"Prinzessin Bess!", begrüßte mich einer der Erwählten aus Brudence - Joel, wenn ich mich nicht irrte. Er hatte eine filmreife Show gestern abgezogen. Jetzt nahm er meine Hand und küsste sie.
Ein echter Gentleman also.

Auch seine Kompanen standen auf und begrüßten mich. Jonas und Francesco aus Enden, die, die aussahen wie Brüder, Marvel von hier aus Berlin und Gregor, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Er hatte kurze Locken und schien etwas schüchtern zu sein.
Oder eingeschüchtert.

Ich wollte gerade ein Gespräch beginnen - dabei wusste ich nicht einmal, über was - als alle Gespräche verstummten und sich alle Augen auf eine gewisse Person hinter mir richteten.

Ich drehte mich um. Aurelia lächelte in die Runde, und als sie mich sah, zwinkerte sie mir zu.

Ertappt verdrehte ich die Augen.

"Wenn es mir erlaubt ist, würde ich gerne den ersten zu mir bitten. Wundern Sie sich nicht, falls niemand vom Gespräch mit mir wiederkommt, denn sie werden danach in den Herrensalon geleitet. Den ... eh ..." Hilfesuchend schaute sie zu mir.

"Einen besseren Namen gibt es noch nicht", gab ich zu und sie nickte.

"Schön. Also, als Ersten bitte ich Sir Marvel zu mir."

Marvel, der wenige Meter neben mir stand, schlug mit Jonas oder Francesco, kein Ahnung, ein und folgte Aurelia, die bereits den Garten in Richtung Schloss verließ.

Als sie komplett verschwunden waren, tauchte der Schrank neben mir auf. Auch Quentin aus German London genannt.

"Majestät?"

Ich wandt mich ihm zu. Er war größer als ich und mindestens doppelt so breit.

"Sie haben nicht zufällig einen Tipp, wie man bei Prinzessin Aurelia punkten kann?"

Die Jungen, die in der Nähe standen und es gehört hatten, lachten oder drehten sich beschämt weg.

Ich hob meine Augenbrauen.

"Nein, tut mir leid. Meine Schwester hat ihre ganz eigenen Vorlieben."

Schnippisch drehte ich mich von ihm weg und ging den gleichen Weg, den auch Aurelia fortgegangen war.

Als ich an Rick vorbei lief, schmunzelte er über mein Verhalten.

Tja, Rick, nur leider hattest du mich bereits aufgegeben.

Soweit ich das zu diesem Zeitpunkt wusste.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt