Ich hatte mich mit Kopfschmerzen vom Essen entschuldigen lassen. In dem Moment, in dem ich es einem Diener mitgeteilt hatte, war es eine Lüge, ein Fluchtversuch gewesen, doch mittlerweile brannte mein Kopf wirklich.
Tommy McMiller war ein Nordrebell. Er hatte nicht allein gearbeitet. Er hatte vom Angriff der Südrebellen Bescheid gewusst.
Und er war verschwunden.Ich saß an meinem Schreibtisch, meine Schläfe auf meine Faust gestützt. Der Ring in meiner anderen Hand glitzerte im Sonnenlicht, was zum Fenster hineinfiel. Er war wunderschön. In seiner Schlichtheit und Feinheit lag ein Zauber, den ich nicht in Worte fassen konnte. Es war wie mit einem Buch, was man ließt und wirklich liebt und gar nicht sagen kann, wieso.
Mir kamen alle Dinge in den Sinn, die Dad mir über die Nordrebellen erzählt hatte. Sie waren längst nicht so brutal wie die Südrebellen, doch umso mysteriöser. Die Südrebellen suchten Zerstörung, Chaos, ein System ohne Kasten. Eine Revolution.
Doch die Nordrebellen kamen und gingen und nahmen nur Dokumente mit sich. Schriften und Briefe. Tagebücher. Und es gab zu viele im Schloss, als dass man alle hätte verstecken können, und sowieso wusste ja niemand, wieso.Tommy McMiller wusste es. Er war einer von ihnen; doch er war fort. Wer hatte ihm geholfen?
Frustriert ließ ich meinen Arm auf den Tisch knallen, woraufhin einige Stifte klapperten. Ein Blatt wehte vom Tisch und den Boden. Es war eines der Notizblätter, die ich für mein Projekt über Obdachlose geschrieben hatte. Ich blickte es schief an, dann den Ring in meiner Hand.
"Die Obdachlosen sind die am meisten vom Kastensystem betroffenen Personen. Unter ihnen vermutet man sämtliche Rebellen, ganze Gruppierungen, die sich verschworen haben."
Das hatte in einer Zeitung gestanden, eine der Magazine, die Joleen so verabscheute. Und mir kam eine Idee, die so lächerlich war, dass ich hätte wissen müssen, dass sie schiefgehen würde.
♢
Rya schlug fluchend gegen die Wand; das dritte Mal in dieser Stunde. Wieso? Wieso musste alles immer schief gehen? Und wieso hatte dieser Idiot von bestem Freund ihr nicht gesagt, dass der Ring dort unten lag, aber der Prinzessin? Sie konnte dieses Mädchen immer weniger leiden.
War jetzt vielleicht alles umsonst gewesen? Sie und T. hatten nicht viel darüber reden können, was passiert war und wie viel er preisgegeben hatte; sie hatte ihn einfach geholt, raus aus diesem Verließ, durch den Geheimgang ins Chaos des Kampfes. Sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatten, beide da lebend rauszukommen, doch es war selbstverständlich für sie gewesen, es zu versuchen.
Er hätte das selbe für sie getan.
Er hatte das selbe für sie getan.Rya hoffte nur, dass er sicher heim gekommen war, und dass Danges ihn keinen Kopf kürzer gemacht hatte. Und außerdem, dass die Prinzessin zu blöd wäre, um das Sternsymbol auf dem Ring richtig zu deuten. Dabei wusste sie letzteres eigentlich besser.
Die junge Rebellin haute noch einmal mit flacher Hand gegen die Wand, ließ sich auf ihr Bett fallen und boxte gegen die Matratze. Ihre Faustballen schmerzte, doch eine Idee kam ihr nicht. Aber irgendwas musste sie doch tun!
"Komm schon, Rya!", fluchte sie, krallte sich in ihren lockigen Haaren fest und kniff die Augen zusammen, bis sie bunte Farben sah.
T. würde sie nicht kontaktieren können, es wäre zu riskant. Gott, hätte er mal das selbe gedacht, dann wären sie jetzt gar nicht erst in dieser Situation; aber er musste natürlich Angst um sie haben.
Rya seufzte. War das jetzt süß oder total dämlich von ihm gewesen?
Dämlich. Es war dämlich gewesen, sagte sich das Mädchen. Beste Freunde sind dämlich, nicht süß. Sie hielt einen Moment inne, starrte ins Nichts und ließ einen Gedanken zu, den sie schon im nächsten Moment in die Tiefen der Hölle verbannte, irgendwo dorthin, wo er unerreichbar war, für sie selbst und vor allem für T.. Am liebsten hätte sie darüber gelacht, doch sie bekam es nicht hin.
Sie erinnerte sich an den Schwur, den die beiden Freunde sich vor Ewigkeiten gegeben hatten; dass sie zusammenbleiben würden, egal, was passieren würde. Und sie fragte sich, ob dieses Versprochen nicht schon längst ungültig sei, ob es nicht in dem Moment in Scherben zersplittert sei, in dem sie Danges zu dieser verdeckten Mission zugestimmt hatte.
Rya konnte sich an T.s Gesicht erinnern, an seine irritieren Augen, als sie ihm davon erzählt hatte. Wie er die verschmutze Brille abgenommen und beiseite gelegt hatte, wie er sie angeschaut und gelächelt hatte. Sie wusste nicht, dass er mit dem Gedanken gerungen hatte, an ihrer Stelle zu gehen. Als Wache, oder als Erwählter selbst. Und auch wusste sie nicht, dass er sich dafür verurteilte, sie allein hatte gehen zu lassen, und gleichzeitig dafür, dass er sie auch nur für einen Moment davon hatte abhalten wollen. Das war ihre Chance.
Und nun, nun hatte er diese fast ruiniert.Rya ließ locker. All ihre Wut und Kraft war mit einem Mal verschwunden. Sie drehte sich auf den Rücken und starrte an die graue Decke.
Sie war müde. Sie wollte nach Hause. Sie wollte nach Hause zu T. und Danges und Mauritius und Dädalus, ihren Mäusen. Sie wollte weg aus diesem Prachtschloss voller Prunk und teurer Dinge. Für einen kurzen Moment zog sie es in Erwägung, einfach zu kündigen und zu gehen.
Aber das konnte sie nicht.
Ein kleines Tattoo an ihrem Ringfinger, dort, wo T. seinen Ring normalerweise trug, hielt sie davon ab. Der Nordstern war ihr ein Kompass.Er war es schon lange gewesen. Er war es, seitdem ihre Eltern gestorben waren. Sie war sich nicht einmal genau sicher, wie. Sie waren eines Tages einfach nicht mehr da gewesen, und eine Frau war zu ihr gekommen und hatte sie in ein Heim gebracht. Es war die schlimmste Woche ihres Lebens, und sie hasste es, daran zurückzudenken. Das junge Mädchen war weggelaufen. Direkt in die Arme eines Mannes mittleren Alters und mit scharfen, dunklen Augen.
Ein Adler. Danges. Und er hatte sie mitgenommen und aufgezogen und ausgebildet, und sie war niemandem so dankbar wie sie es ihm war.Er und T. waren ihre Familie. Die Rebellen waren es. Und sie war bereit dafür, alles für sie zu geben.
Rya raffte sich auf, richtete sich her und schaute auf die schäbige Uhr an der Wand. Es war kurz nach dreizehn Uhr.
Die Tür hinter ihr ging scheppernd ins Schloss, als sie ihr Zimmer verließ.
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Die Schwester ; a selection story | 1. Fassung
FanfictionPrinzessin Aurelia der Deutschen Föderation, Tochter des Königspaares Brandon und Valencia von Morgenstern, ist soweit. Mit Abschluss ihres neunzehnten Lebensjahres gibt sie die Selection bekannt. Die Selection, bei der sie ihren Mann und den zukün...