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"Und?", fragte Aurelia mich am späten Nachmittag, direkt, nachdem sie das letzte Gespräch beendet hatte.

"Um ehrlich zu sein, war ich nicht lange da. Dieser Quentin hat gefragt, wie man dich am besten rumkriegt, und da wurde es mir zu blöd."

Aurelia lachte.

"Mann, Bess, du solltest meine Spionin, nicht der Moralapostel sein!"

Ich zuckte mit den Schultern und zog meinen Zopf fester. Ich hatte heute auf eine aufwendige Frisur verzichtet.

"Aber um ehrlich zu sein, bei mir war er auch seltsam. Hat mich gefragt, ob ich es denn gut finden würde, Königin zu werden und das es ja eigentlich unfair wäre, dass das Regiment vererbt und nicht vom Volk gewählt wird."

"Da ist jemand eben politisch ambitioniert", murmelte ich und Aurelia verdrehte die Augen.

"Ja, aber trotzdem. Ich mochte ihn nicht."

"Das bedeutet, er muss gehen?"

Sie nickte. "Ja, das muss er." Kurz sagte niemand etwas. "Was hast du noch so herausgefunden?"

"Cassian aus Central Hellenburg. Er war sehr nett", meinte ich und sie stimmte mir zu. "Wie viele willst du eigentlich nach Hause schicken?"

"Mindestens fünf."

"Ah."

"Ich weiß, was du fragen willst."

Natürlich wusste sie das. Und es interessierte mich brennend, was sie mit Rick anstellen würde, aber gleichzeitig hatte ich unfassbar Angst vor ihrer Antwort. Was, wenn er bleiben sollte? Was, wenn Aurelia ihn plötzlich doch leiden konnte?

Ich wich aus.

"Joel, die Brüder aus Enden und Marvel fand ich auch ganz okay, mit ihnen habe ich kurz geredet."

"Bess."

"Gregor aus Saxen war auch dabei, etwas zurückhaltend, aber vielleicht findest du das ja nicht schlecht."

Sie schaute mich nur an. Sie hatte meinen Rat gewollt, und den gab ich ihr. Sie könnte ruhig mal dankbar sein.

"Naja, dann kam Quentin und ich bin gegangen", sagte ich, als sie mir nicht antwortete.

Aurelia kannte mich gut genug, um zu wissen, was ich gerade für ein Spiel spielte, und ich kannte sie gut genug, um mir sicher zu sein, dass meine Taktik bei ihr nichts nützte.

Mein Gesicht verschwand in meinen Händen und ich seufzte gequält auf. Wieso musste auch alles so kompliziert sein?

"Was wirst du mit ihm machen?"

"Mit wem?"

"Du weißt, wem."

"Sag seinen Namen, Bess. Verdrängung hilft nicht."

Ich funkelte sie böse an. Als ob sie auch nur im Geringsten wusste, wie es mir in dieser Situation ging und was mir helfen würde.

"Sag du doch seinen Namen, schließlich ist er Teil deiner Selection!"

"Bess, hör auf. Ich versuche nur, dir zu helfen."

"Na dann: sag mir, ob du Rick rauswirfst oder nicht."

Ihre Augen verweilten lange auf mir. Sie hatte schöne Augen. Ich könnte verstehen, warum Rick sie mir vorziehen würde. Sie war anmutig, wunderschön und mächtig.

Und ich war nur ihre kleine Schwester.

"Ich werde ihn im Casting behalten."

Mir war zum Schreien zumute.

Ich hatte es gewusst. Es war so klar gewesen. Warum konnte das Schicksal nicht auch nur einmal auf meiner Seite stehen? Sie mochte ihn doch nicht einmal!

"Raus."

Meine Stimme klang kälter, als ich es beabsichtigt hatte. Aurelia verzog erschrocken das Gesicht.

Keine Ahnung, wie unser Treffen so eskalieren konnte. Der gesamte Tag.  Heute Vormittag hatte ich meinen ersten Nervenzusammenbruch. Vor einer Stunde hatte ich dann noch glücklich im Garten gesessen und Tee getrunken, hatte über Hannahs Geschichten gelacht und war mit meinen Zofen über die Wachen hergezogen.

Und jetzt, jetzt fauchte ich meine Schwester an, zu gehen, obwohl es ihre Entscheidung war, Rick fortzuschicken oder ihm eine Chance zu geben.

"Nein, Bess."

"Doch, Aurelia! Raus!"

"Du verstehst das nicht, Bess."

Sie redete wie Ricky mit mir, als er mich nach der Bekanntgabe der Erwählten abgefangen hatte. Vielleicht war es das, was meine Wut zum Überschwappen brachte.

"Ich verstehe das nicht? Mein Leben ist ein einziges Chaos, Aurelia! Mein Freund meldet sich zum Casting meiner Schwester an und kann mir nicht einmal erklären, warum! Verdammte Scheiße, ich dachte, wir hätten etwas Besonderes! Und ganz nebenbei laufen hier auch noch vierunddreißig andere wildfremde Kerle rum, es ist nur eine Frage der Zeit, bis Rebellen erneut unser Schloss angreifen und ich weiß nicht, was ich tun soll! Und du, du stolzierst hier herum, als ob du dir alles erlauben könntest, sogar, dich an meinen Freund ranzumachen, wobei, tut mir leid, wahrscheinlich kannst du dir sogar alles erlauben! Weil du ... du bist!"

Ich war aufgesprungen. Hatte all diese Sachen Aurelia an den Kopf geschmissen, die einfach auf meinem Schreibtischstuhl gesessen und nicht mit einer Wimper gezuckt hatte.

Ich hasste sie dafür.

Ich hasste sie für ihre Selbstbeherrschung, dafür, dass sie mich nicht schlug, denn vielleicht hätte mich das in die Gegenwart zurückgebracht.

Aber das tat sie nicht. Natürlich tat sie das nicht.

Ich rannte aus meinem Zimmer, schlug die Tür hinter mir zu und ignorierte meinen Leibwächter, der mir verwirrt nachrief.

Ich wusste nicht, wo ich hinlief.

Ich folgte einfach meinen Füßen, irgendwohin, Hauptsache weg von Aurelia. Vielleicht konnte ich sogar vor mir selbst weglaufen, wenn ich schnell genug war.

Dad hatte mir mal erzählt, dass er selbst noch nicht in allen Teilen den Schlosses gewesen war. Das bedeutete, wir hatten viel zu viel Platz und waren viel zu eitel.

In diesem Moment hätte ich jeden einzelnen Gang im Schloss ablaufen können, doch ich wurde je daran gehindert.

Ich rannte gegen etwas.
Gegen jemanden.
Gegen eine Person.

Benommen schaute ich auf.

Vor mir stand Theo, einer der Erwählten. Der, der sich gestern als Einziger auch vor mir verbeugt hatte. Er blickte mich überrascht mit blauen Augen an.

Und ich war sauer.
So sauer.
Und ich presste meine Lippen auf seine.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt