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Ich stolperte in den Schutzraum der königlichen Familie, meiner Familie, und die massive Stahltür hinter mir wurde zugeschmissen. Ich fiel auf die Knie, mein Kleid zerriss an der Seite und meine Hände, mit denen ich mich abfing, wurden aufgeschürft.

"Bess!"

Ich verkniff mir sämtlichen Schmerz und schaute auf, direkt in das besorgte Gesicht meiner Mutter.

"Gott sei Dank, es geht dir gut!" Sie strich mir kurz über meine Haare, half mir auf und drückte mich fest an sich. Über ihren Rücken hinweg erblickte ich Dad, Aurelia und einen Großteil der Erwählten.

Den gesamten Weg zum Schutzraum war mir nur eine Frage im Kopf herumgegeistert: Wie hatte Tommy McMiller, wenn er denn so hieß, es wissen können?

Doch nun, als ich in die beunruhigen Gesichter meiner Familie blickte und ein bestimmtes nicht sah, stoppten jegliche Gedankenprozesse. Mir wurde schlecht.

Er war nicht da. Sein kleines, hageres Gesicht mit den runden, braunen Augen, die Stupsnase und das süße Lächeln.

Ich stellte mir vor, wie die großen, rauen Hände eines Angreifers ihn packten, ihn mit sich schleppten. Ich drückte die Augen fest zusammen, um den Gedanken loszuwerden.

"Mom, wo ist Chris?", fragte ich leise, bedacht, doch sie antwortete nicht. Ich öffnete meine Lider wieder.

"Wo ist Chris?", fragte ich erneut, hysterischer als zuvor, doch sie blieb ruhig. Sie blieb ruhig und ich verlor die Nerven.

"Wo ist Chris?" Ich war laut, aufgebracht, schüttelte sie an den Schultern, während ich schrie.

Wo war mein kleiner Bruder?

Ich war kurz davor, ein weiteres Mal zu schreien, als sich eine Hand auf meinen Arm legte. Ich zuckte zusammen, als hätte ich vergessen, dass wir nicht alleine waren.

Es war David, der Freund von Cassian. Er sah mich ruhig an; seine Augen leuchteten auf seiner dunklen Haut.

"Ich hab ihn gesehen, Majestät. Kurz, bevor der Alarm losging. Er war bei seinem Kindermädchen, es wird ihm gut gehen."

Sein Blick hatte so etwas Durchdringendes, so etwas Beruhigendes, dass sich mein Atem etwas normalisierte. Ich nickte wie betäubt, starrte ihn an wie einen Geist. Leicht lächelnd nahm er seine große Hand von mir.

Ich schüttelte leicht meinen Kopf, kniff die Stirn zusammen. Alle sahen mich an, doch es war mir gleich.

Chris ging es gut. Es geht ihm gut, sagte ich mir immer und immer wieder, wie ein Mantra, während ich mich auf eine der aufgestellten Liegen zubewegte.

Wie konnte ich so sehr die Fassung verlieren?

Ich setzte mich. Der Stoff war, überraschenderweise, gar nicht allzu unbequem, und ich bettete meinen Kopf in meine Hände, nachdem ich meine Ellenbogen auf meinen Knien abgestützt hatte, obwohl diese noch immer weh taten.

Ich brauchte Ablenkung, Ablenkung von dem Gedanken an Chris. Und mir fielen McMillers Worte wieder ein.

"Ihnen wurde erzählt, dass ich im Nordturm gefasst wurde? Schauen Sie am Fuße dessen nach, dort ist der Beweis, warum Sie mir glauben sollten."

Ob ich dort wirklich Antwort auf meine Fragen bezüglich ihm und seines Wissens finden würde? Oder war es nur eine Ablenkung, eine Masche - für was auch immer?

Die Liege senkte sich links von mir. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Dad.

"Es sind Südrebellen", murmelte er, aber ich gab mir nicht die Mühe, überrascht zu wirken. Zwar hatte ich auf dem Weg keine gesehen, aber ich glaubte McMiller; er hatte so viel Wahres gesagt.

"Es mag nicht der richtige Augenblick sein, um dich das zu fragen, Bess, aber hast du noch etwas herausgefunden? Es scheint mir möglich, dass dieser Mann nur ein Ablenkungsmanöver war."

Ich seufzte, hob meinen Kopf und starrte geradeaus. Er hatte recht. Es war nicht der richtige Zeitpunkt.

Ich beobachtete Aurelia dabei, wie sie jeden Erwählten versorgte, fragte, wie es ihnen ging, wie sie Fragen selbst beantwortete und ihnen Mut zusprach. Die meisten von ihnen waren in guter Fassung, während andere wie Laurin aus Auria, Bruce aus German London oder Paul aus Hellenburg West blass und verängstigt wirkten. Joris aus Souths wirkte vollkommen verstört, aber gefasst. Er begegnete kurz meinem Blick, wandt sich aber sofort wieder ab.

Rick hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, die Arme verschränkt und mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Er schaute finster drein, als ob der Angriff der Südrebellen ein Angriff auf seine eigene Person gewesen wäre; dabei hatte er schon einige Attacken miterlebt.

Einmal, als wir beide unterwegs gewesen waren und die Sirenen zu heulen angefangen hatten, hatte ich ihn mit in den Königlichen Schutzraum gezerrt. Er hatte dauerhaft gut auf mich eingeredet, bis ich in seinen Armen eingeschlafen war.

Damals war er fremd in diesem Raum. Heute war es sein Recht, hier zu sein. Alles hatte sich geändert.

"Er sagte, sein Name wäre Tommy McMiller und er wäre allein."

Dad, der scheinbar schon aufgegeben hatte, etwas von mir zu erfahren, schreckte hoch. Er sammelte sich kurz und nickte daraufhin.

"Was waren seine Motive?"

"Ich weiß es nicht." Sollte ich ihm von seinem Angebot erzählen? Ich wollte, es war das Richtige, aber irgendetwas hielt mich zurück.

"Glaubst du, du bekommst noch etwas aus ihm heraus?" Wenn die Rebellen ihn nicht holten? Was, wenn er wirklich nur eine Ablenkung und längst befreit worden war?

Doch ich verwarf den Gedanken. Das Verließ wurde immer bewacht, selbst bei einem Angriff. Niemand würde zu ihm vorrücken können.

Aber selbst dann, was würde er mir jetzt noch sagen? Nachdem ich seinen Deal abgelehnt hatte?

"Ich weiß es nicht, Dad", wiederholte ich meine Worte und schaute ihm ins Gesicht. Er wirkte erschöpft und tat mir leid. "Aber ich kann es versuchen." Ich wollte lächeln, doch es gelang mir nicht. Er erhob sich nickend und schritt zu Mom ans andere Ende des Raumes, die zerstreut auf einer Bank saß.

In diesem Moment bemerkte ich Joel aus Brudence unweit von mir stehen. Als er sah, dass ich ihn registriert hatte, nickte er mir lächelnd zu. Hatte er uns belauscht?

"Geht es Ihnen gut?", fragte ich aus Höflichkeit, auch wenn mir nicht nach einem Gespräch zumute war. Joel zuckte mit den Schultern, dann schüttelte er den Kopf.

"Kennen Sie Theo aus Threegen, Majestät?"

Ich nickte. Den kenne ich nur allzu gut, dachte ich mir, und mir wurde schlagartig bewusst, dass er nicht hier war. Ich schluckte meine bitteren Gedanken runter. Erst Chris, jetzt er.
Wo steckte er?

"Er ist mein Zimmernachbar, wir verstehen uns relativ gut. Wo er wohl ist?"

"Ich bin mir sicher, dass Sir Theo kompetent genug ist, sich bei Gefahr zu verteidigen."

Er nickte ernst. "Ja, der Gedanke hilft mir auch."

Ich war nicht sicher, was ich darauf antworten sollte. Ich legte mich einfach auf die Liege, starrte an die driste, graue Decke und betete, dass es allen gut ging.

Chris. Hannah und Markus Todd. Meinen Zofen. Levi Wicher. Theo aus Threegen.

Und irgendwie auch Tommy McMiller.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt