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Die Uhr an der Wand verriet mir, dass drei Stunden vergingen, bis Officer Markus Todd die Tür entriegelte und uns hinaus ließ.
Es fühlte sich länger an. So viel länger.

Mom eilte zu ihm, ich folgte ihr langsam. Hatte ich Angst vor der Antwort, die er ihr geben würde, nachdem sie nach Chris gefragt haben würde?

Ich war nicht in Hörweite, hatte mir zu viel Zeit gelassen, als er bedächtig den Kopf schüttelte und Mom beschwichtigend seine Hand auf die Schulter legte. Diese riss die Augen auf und die Hände vor den Mund. Ich schluckte.

"Sie wissen nicht, wo er ist", murmelte jemand neben mir. Rick. Ich beachtete ihn nicht. "Es geht ihm gut, Bess. Da bin ich mir sicher."

"Wie könnt ihr euch sicher sein, dass es ihm gut geht, wenn er nicht hier direkt vor euch steht?", fauchte ich Rick an. Es sollte nicht so harsch wirken, wie es tat, aber ich konnte nicht anders. Dabei dachte ich das gleiche, irgendwie.

Chris ging es gut. Es musste ihm gut gehen.

Ich räusperte mich. "Danke", entschuldigte ich mich auf eine seltsame Art und Weise bei dem Jungen neben mir, bekam seine Reaktion aber gar nicht mehr mit, da ich bereits festen Schrittes auf dem Weg war. Wohin genau, wusste ich nicht.

Ich ließ Mom und Dad hinter mir, Aurelia, Markus und die Erwählten. Ich wollte weg, so schnell wie möglich, irgendwohin, wo ich meinen kleinen Bruder in den Arm nehmen konnte.

Ich beachtete die Verwüstung nicht. Die zerrissenen Wände, die Glasscherben auf dem Boden, die zerkratzten Gemälde. Es roch nach Chemikalien. Überall rannten Bedienstete und Wachen umher, räumten auf oder suchten nach Freunden und Familie.

Die Toten waren bereits fort. Es musste Tote gegeben haben.

Ich war in einem mir unbekannten Gefühlszustand. Ich hatte Angst, Panik, mein Puls ging viel zu schnell und meine Knie schmerzten, doch zur selben Zeit war mein Kopf und meine Gedanken klar und sortiert wie nie zuvor.

Ich hatte ein Ziel; meinen Bruder zu finden. Meinen kleinen Chris.

Ich bemerkte den jungen Mann, der mir in Wachenuniform entgegenkam, erst gar nicht. Auf den ersten Blick sah er aus wie jeder andere, und somit brauchte ich ihm keine Beachtung schenken.

Erst, als er direkt vor mir stehen blieb und ich ihn fast umrannte, sah ich überrumpelt zu ihm auf. Mein Herzschlag setzte einen Moment aus.

"Levi!", hauchte ich und fiel ihm im nächsten Augenblick auch schon um den Hals. Wenigstens ihm ging es gut, so viel wusste ich schon einmal.

Er drückte mich an sich, als hätten wir uns Jahre lang nicht gesehen und wären unzertrennliche Freunde, was beides nicht stimmte, doch es war mir egal, denn es fühlte sich gut an.

"Majestät!", sagte er, und vielleicht war es dieses Wort, was uns beide mit einem Mal zur Vernunft brachte. Ich löste mich von ihm und er ging, wenn auch noch immer erleichtert lächelnd, einen Schritt zurück.

"Ich bin so froh, dass es Ihnen gut geht, Majestät", lächelte er. Er war abgehetzt, außer Atem, als hätte er überall nach mir gesucht, aber das war nicht das Einzige, was mich schockierte.

Er war übel zugerichtet worden. Sein Auge war blau und angeschwollen, seine Lippe aufgeplatzt und von seiner Stirn aus zog sich ein Messerschnitt bis hin zu seiner linken Wange.
Ich sog scharf die Luft ein.

"Und Ihnen? Geht es Ihnen gut?" Er nickte, machte eine abwinkende Handbewegung und meinte, bei ihm wäre alles okay. Und doch war ich mir sicher, dass es sein erster Kampf als Wache gewesen war.

"Der Schnitt ist nicht tief, er wird verheilen. Eigentlich schade, Narben im Gesicht sehen doch cool aus", sagte er, lachte und entlockte mir ein Lächeln. In diesem Moment schien ihm etwas einzufallen.

"Ihre Zofen. Es geht Ihnen gut."

Meine Augen weiteten sich. Er hatte sein Versprechen gehalten? Dabei konnte er gar nicht in der Nähe der Bedienstetenräume gewesen sein.

"Sie...ich...vielen Dank. Ich bin Ihnen auf ewig dankbar", stotterte ich vor mir hin, als mir Chris wieder in die Gedanken kam. Meine Mundwinkel erschlafften und das Lächeln starb. Levi stutzte.

"Was ist los, Majestät?" Ich zögerte nicht, zu antworten.

"Chris. Er war nicht bei uns, ich weiß nicht wo er ist."

Levis Augenbrauen zogen sich besorgt zusammen, was verwunderlich bei seinen Verletzungen war.

"Es wurden längst noch nicht alle Schutzräume geöffnet. Sicherlich ist ist er in einer von ihnen."

Ich kam zu keiner Antwort. Ein Officer, Officer Kohen, wenn ich richtig lag, rannte mit lauten Schritten um die Ecke und auf uns zu.

"Majestät", rief er schon aus einiger Entfernung, "Majestät, kommen Sie schnell!"

Mein Blick zuckte von ihm zu Levi und wieder zurück und ich wurde nervös.

"Der Prinz, er wurde gefunden! Er lebt!"

Oh mein Gott.

Eine Welle der Erleichterung überkam mich und mir blieb die Luft weg. Tränen traten mir in die Augen.

"Gott sei dank", murmelte Levi, kurz bevor ich Officer Kohen entgegeneilte. Die Wache folgte mir.

Keine zwei Gänge weiter, in einem kleinen Gang, der zu den Waschräumen führte, stand eine kleine Gruppe an Personen. Einige Wachen, eine Frau und...

"Bess!"

Eine kleine, dunkelhaarige Person, die bisher die Hand der Frau gehalten hatte, löste sich von ihr und rannte auf mich zu. Seine kleinen Schritte hallten an den Wänden wieder und gaben ein Echo von sich.

Ich ließ mich hinunter auf die Knie, die Schmerzen waren egal, kurz bevor er bei mir ankam, und streckte meine Arme nach ihm aus.

Die Wucht, mit der Chris mich umarmte, haute mich fast um.

Tränen rannen mir endlich über die Wangen. Es war wie eine Befreiung. Und ich drückte seinen Kopf noch näher an meine Schulter.

"Du bist da!", flüsterte ich erstickt, mehr zu mir selbst als zu ihm.

"Natürlich bin ich da. Wo sollte ich denn sonst sein?" Er drückte sich mit seinen zarten Händen von mir und schaute mich entrüstet an. "Hey, wieso weinst du denn?"

Ich lachte und schniefte gleichzeitig. Er war da, es ging ihm gut, und er war genau so wie immer.

"Ich bin einfach nur so froh dich zu sehen", schluchzte ich mit einem Lächeln und er grinste.

"Ich bin auch froh, mich zu sehen!"

Ich verdrehte die Augen und umarmte ihn ein zweites Mal. Ich schloss meine Lider und sog seinen Duft ein.

Ein Schatten fiel auf uns und ein raues, leises Lachen ertönte.

"Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen das lassen, Majestät."

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt