Ich hatte den gesamten Sonntag in meinem Zimmer verbracht. Nach Levi war niemand mehr gekommen, um sich nach mir zu erkundigen, und eigentlich war es mir recht.
Ich laß, aß, probierte neue Kleider an und versuchte mit allem, was ich tat, mich von Rick und der Tatsache, dass er ein Erwählten war, abzulenken.
Ein Erwählter. Rick. Mein Rick.
Ein einsames, kleines Armband lag in einer Ecke meines Zimmers, wohin ich es aus Wut verfrachtet hatte. Sollten die Mäuse sich doch daran erfreuen. Auch, wenn ich bezweifelte, dass meine Zofen auch nur eine der kleinen Lebewesen in meine Nähe lassen würden.
Gegen siebzehn Uhr fing es an zu regnen. Der Himmel weinte dicke Tropfen, die an meine Scheibe klopften und dann in langen Strähnen daran herunterflossen. Ich setzte mich in meinen Erker und schaute ihnen dabei zu. Beobachtete, wie sie Fangen spielten und am Fensterrand zerflossen.
Völlig auf die Tropfen fokussiert, bemerkte ich nicht, wie zwei Gestalten draußen ihre Runde liefen und heftig diskutierten.
Ich stand auf. Vor dem Frühstück und Mittag hatte ich mich gedrückt, das Abendessen konnte ich nicht auch ausfallen lassen. Ich würde Aurelia einfach ignorieren; wenn sie Verständnis für mich hatte, würde sie mir meine Zeit lassen. Dass ich abgehauen war, würde an heftigen Bauchschmerzen gelegen haben, die mich heute immer noch geplagt hatten, weshalb ich nicht zum Essen gekommen war.
Das würden sie mir hoffentlich abkaufen. Wenn nicht, hatte ich ein Problem.
Die Flure fühlten sich länger an als sonst, als ich mich zum Essensaal meiner Familie aufmachte. Die Bilder an den Wänden schienen mich gehässig auszulachen.
Ich klopfte an die Tür und trat ein, nachdem mir ein Diener geöffnet hatte. Alle starrten mich an. Ich zwang mir ein Lächeln auf.
"Bitte entschuldigt die Verspätung", sagte ich so deutlich wie möglich, was sich bei meiner wie zugeschnürrten Kehle als schwierig erwies. Ich räusperte mich und nahm neben Chris und gegenüber von Mom Platz. Aurelia, die neben meiner Mutter saß, hatte ihren Blick auf den Teller vor ihr gerichtet. Schämte sie sich etwa?
"Was hat es mit deinem Fehlen bei den anderen Mahlzeiten auf sich?", fragte Mom und sah mich forschend an. Dad, der am Tischende und somit schräg links von mir saß, blickte eher besorgt.
"Ich hatte Bauchschmerzen. Muss etwas Schlechtes gegessen haben."
Der misstrauische Blick verschwand nicht. Jetzt hatte ich doch Bauchschmerzen.
"Wieso hast du nicht den Doktor aufgesucht? Ich bin mir sicher, er hätte dir helfen können."
Gegen Liebeskummer? Wohl kaum.
"Es tut mir Leid, Mom."
"Das hoffe ich." Mit einem letzten Stirnrunzeln richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Essen zu, während ich mich dafür schlagen wollte, dass ich ihr nicht schon früher Bescheid gegeben hatte. Sie hatte arbeiten müssen, alle hatten das gemusst, und ich war beleidigt gewesen, weil niemand mich besucht hatte.
Ich seufzte leise und schnitt mir ein Stück des Hähnchenschenkels ab. Chris kaute entspannt neben mir vor sich hin. Wieso konnte ich nicht auch nochmal so klein sein?
Draußen blitzte es. Ich zuckte zusammen, Dad legte seine Hand auf meine.
Ich hatte Angst vor Gewitter. Das war noch nicht immer so gewesen. Früher hatte ich es gemocht. Bis ein geliebter Mensch ins Gewitter gegangen und nicht wiedergekehrt war.
Ein Blitz fegte über den Himmel. Keine sechs Sekunden später ertönte ein Donner, abgeschwächt von den dicken Mauern des Palastes, und trotzdem erschreckend laut.
Dankend lächelte ich meinem Vater zu. Jetzt war ich schon fast froh, hier und nicht alleine oben in meinem Zimmer zu sein.
"Was hältst du eigentlich von den Männern, Bess?", fragte Chris und schaute mich mit neugierigen Augen an. Ich schluckte, wischte ihm mit einer Serviette etwas Soße vom Mund und stellte mich dumm.
"Welche Männer, Chris?"
"Na die von Auri!" Mein Blick huschte zu ihr, sie jedoch schien abwesend. Ich fragte mich, was in ihrem Kopf vorging. Ob sie Rick als Möglichkeit erwog. Wobei, früher hatte sie ihn nicht gemocht.
Früher. Gestern noch.
"Die sind bestimmt ganz nett", brachte ich heraus. Chris war so unschuldig. Er nickte stark und meinte, dass er sich auf neue Spielkameraden freuen würde. Niemand von uns sagte ihm, dass die Jungen wohl kaum die Muße dazu haben würden, etwas mit ihm zu unternehmen.
Nach diesen Worten hörte er auf, darüber zu sprechen. Vorerst, dachte ich mir. Wenn ich nicht die nächste Zeit wie ein Lamm auf dem Weg zum Schlachter aussehen wollen würde, müsste ich Rick aus meinem Kopf bekommen.
Und da gab es nur einen Weg. Arbeit.
"Dad? Wann kann ich am Zimmer für die Erwählten weiterarbeiten?"
Er war nicht überrascht.
"Morgen schon, wenn du willst. Bis Mittag sollte ein Großteil des Möbiliars dort sein."
Ich nickte. Den Rest des Essens schwieg ich.
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Die Schwester ; a selection story | 1. Fassung
Hayran KurguPrinzessin Aurelia der Deutschen Föderation, Tochter des Königspaares Brandon und Valencia von Morgenstern, ist soweit. Mit Abschluss ihres neunzehnten Lebensjahres gibt sie die Selection bekannt. Die Selection, bei der sie ihren Mann und den zukün...