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Ich nahm genüsslich einen Schluck vom Kastanientee - wir hatten eine Ausnahme gemacht, denn normalerweise gab es den nur im Herbst - und konzentrierte mich ganz auf dieses Zimmer, versuchte, die Bilder von den unteren Fluren aus meinem Kopf zu bekommen, als Ivana, die wie eine Verrückte durchgehend redete, laut aufschrie. Ich zuckte heftig zusammen.

"Oh, oh! Wir haben Ihnen noch gar nicht von der netten Wache erzählt, die uns vorhin gerettet hat!"

Ich verschluckte mich leicht und hustete. Jetzt ging es schon wieder um den Angriff. Joleen, die neben mir saß, klopfte mir auf den Rücken, und dankend nickte ich ihr zu. Zu mehr war ich nicht in der Lage.

Ivana fuhr unbeirrt fort.

"Wie war sein Name noch gleich? Louis Winter?" Ich hätte bei dieser Namensverirrung am liebsten losgelacht, doch stattdessen verschluckte ich mich gleich nochmal. Meine Augen weiteten sich.
Louis...

"Levi Wicher", verbesserte Annalena Ivana und warf mir einen mitleidigen Blick zu; ob es am Husten oder ihm lag, konnte ich nicht sicher sagen.

"Stimmt!" Die Zofe klatschte begeistert in die Hände und ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Sie konnte schließlich nichts dafür. Niemand konnte das. Und außerdem war es schon viereinhalb Jahre her...

"Wir waren in der Schneiderei, als der Alarm losging. Wir haben uns ganz schön erschrocken! Hatten Angst. Und im nächsten Moment schon haben wir Schreie gehört. Es war ganz schrecklich." Die gute Stimmung war mit einem Mal wie weggeblasen.

Und ich? Ich hatte so sehr Angst gehabt, obwohl ich nicht ein einziges Mal auch nur nahe eines Kampfes gewesen war. Ich fühlte mich schlecht. Sie alle waren so viel stärker gewesen als ich; meine Zofen, Levi Wicher, selbst der kleine Chris.

"Da kamen auch schon zwei von diesen Idioten zu uns rein. Richtige Rabauken! Aber zum Glück hatten sie keine Waffen dabei. Anna hat den einen mit einer schweren Nähmaschine abgeworfen, voll auf den Kopf, Sie hätten dabei sein müssen!"

Annalena feixte verlegen, als ob es ihr unangenehm wäre; vermutlich war es das auch. Sie war immer so nett und zurückhaltend, von ihr hätte ich so etwas am wenigsten erwartet.

"Auf den anderen haben Joleen und ich uns gestürzt, einen ganz grässlichen Bart hatte der. Ich weiß nicht, wie wir das geschafft haben, aber irgendwann hat er sich dann nicht mehr bewegt. Aber er lebte noch, keine Sorge!", beschwichtigte die Blonde mich sofort, nachdem ich geschockt in meinem Stuhl hochgefahren war.

"Dann haben wir einen der Tische vor die Tür geschoben, da der Lärm draußen immer lauter wurde und wir sicher waren, dass wir den nächsten Schutzraum nicht erreichen würden."

Ich musste schmunzeln. Mir wurde bewusst, dass ich Levi nicht um Hilfe hätte beten müssen; die drei wussten sich sehr gut selbst zu helfen. In Gedanken entschuldigte ich mich dafür, sie so unterschätzt zu haben.

"Dann hab ich gebetet", erzählte Ivana. "Ich bete ja nie, aber es war so schrecklich. Und tatsächlich, irgendwann schien es sich draußen zu beruhigen. Dann hat es plötzlich heftig an der Tür geklopft. Natürlich haben wir nichts gesagt, das hätte ja sonst wer sein können. Aber dann ertönte eine Stimme: "Misses, sind Sie hier drin? Sind hier die Zofen von Prinzessin Bess?". Ich persönlich", sie zeigte mit einem Finger auf sich selbst, "hätte ja immer noch nicht aufgemacht, aber Anna kannte die Stimme des Herren."

"Er hat mal in der Küche gearbeitet. Ich helfe dort manchmal aus", merkte Annalena an und hatte dabei ein wolliges Lächeln aufgesetzt, als ob ihr der Gedanke daran Freude bereiten würde.

Ivana räusperte sich. "Während wir also den Tisch wieder weg schoben, hat er uns erklärt, Sie hätten ihn geschickt." Sie stockte. "Das...das wäre nicht nötig gewesen, Majestät."

Ich spannte mich leicht an. "Oh, doch. Das war es." Ich blickte meine Zofen alle nacheinander an. "Sie alle liegen mir sehr am Herzen. Ich würde es nicht verantworten können, wenn Ihnen etwas passiert, nicht, wenn ich es hätte unterbinden können. Das würde ich mir nie verzeihen."

Sie schienen berührt zu sein; und ich fühlte mich unwohl. Selten sagte ich so etwas, und schon gar nicht gegenüber Angestellten. Doch für mich waren sie mehr als das. Joleen war die erste, die sich fasste.

"Das ist sehr gütig von Ihnen, Majestät. Ich danke Ihnen, aber wir sind nur..."

"Meine Zofen?" Ich schüttelte verärgert den Kopf. "Ganz sicher nicht; Sie sind so viel mehr für mich. Sie sind einer der wenigen Freunde, die ich hier habe, und es ist mir egal, ob Sie nebenbei zufällig auch noch meine Zofen sind! Schlagen Sie sich aus dem Kopf, ich wäre in irgendeiner Hinsicht besser als Sie!" Ich blickte sie eindringlich an, damit sie wussten, dass ich nicht spaßte. Sie alle schauten unsicher auf den Boden. Mir war bewusst, dass ich damit ein heikles Thema angesprochen hatte.

Das Kastensystem machte uns vor, dass ich mehr wert war als sie. Ich war eine 1, Teil der Königsfamilie, und sie waren der Rest.

Ich räusperte mich, wollte unbedingt dieser ungewohnten Situation entfliehen. "Ivana? Willst du nicht fortfahren?" Sie schreckte etwas auf, nickte dann aber hastig.

"Ja...eh...wo war ich?"
"Beim Türöffnen."
"Ach so, genau. Also, naja, Mister Wicher hatte die Rebellen im Gang erledigt. Und er hat uns zum nächsten Schutzraum geschickt. Und dann...ist er wieder gegangen, nachdem er sicher sein konnte, dass es uns gut ging. Ich...habe ihn seitdem nicht mehr gesehen." Sie schaute mich besorgt an.

"Oh, es geht ihm gut. Er hat leichte Verletzungen, aber es geht ihm gut." Ivana nickte erleichtert.

Als ich ihn vorhin nach den Zofen gefragt hatte, hatte er alles heruntergeredet. Ganz der Macho, dachte ich mir. Ich würde mich noch einmal bei ihm bedanken müssen. Morgen. Es war schließlich bereits Nachmittag und er hatte besonders jetzt bestimmt viel zu tun.

"Würden Sie ihm meinen Dank aussprechen, wenn Sie ihn vor mir sehen?", fragte Joleen höflich und ich nickte natürlich. Ich meinte, ich würde es sehr gerne tun.

Die Mädchen blieben nicht mehr lang. Nur bis der Tee ausgetrunken war, danach verabschiedeten sie sich nach und nach von mir.

Es war bereits spät, das Abendmahl war bereits vorüber - ich war nicht gegangen - , als ein Diener kam und mir mitteilte, dass es allen Erwählten gut ging. Ich war nicht sicher, warum er mir das übermitteln sollte, doch ich hatte mich brav bedankt und ihm "Noch einen schönen Abend" gewünscht. Er hatte schräg gelächelt, ironisch, als ob ich es gemein gemeint hätte, und war wieder gegangen.

Bis ich einschlafen konnte, vergingen viele Stunden. Und als ich es endlich tat, verfolgten mich die Rebellen, das Leid und der Tod bis in die Träume. Doch ich wachte nicht auf.

Gott, ich wünschte, ich hätte aufwachen können, doch ich tat es nicht.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt