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Es war Officer Markus Todd, der mich früh morgens aus meinen Albträumen befreite und mich direkt in den nächsten katapultierte.

"Majestät!" Es klopfte heftig an der Tür und ich kniff gequält die Augen zusammen.

"Majestät, sind Sie wach?" Wie oft hatte ich Markus schon gebeten, mich zu duzen, fragte ich mich, während ich mich aus meinem Bett hievte.

"Ja, jetzt schon", stöhnte ich und entriegelte die Tür. Ich musste schrecklich aussehen, das konnte ich Markus' Gesichtsausdruck entnehmen. Ich rieb mir über die Augen, in der Hoffnung, das würde es besser machen. Wie spät war es?

"Was gibt es?"

Markus schüttelte den Kopf, vielleicht musste er meinen schrecklichen Anblick aus dem Kopf bekommen, und erläuterte mir die Lage; er flüsterte dabei.

"Der Gefangene vom Nordturm. Er ist verschwunden."

Und mit einem Mal war ich hellwach. Ich starrte den Mann vor mir an und konnte ihm nicht glauben. Ich wollte es nicht.

"Wie...wie konnte das passieren?" Er hatte es angekündigt. Ich hätte es wissen müssen. Aber das war unmöglich! Er konnte kein Südrebell gewesen sein, er selbst schien viel zu sehr Angst vor ihnen gehabt zu haben.

Markus schüttelte abermals den Kopf. "Ich weiß es nicht, Majestät. Nach dem Angriff hatten alle viel zu tun, zunächst ist niemandem sein Fehlen aufgefallen."

"Aber das Verließ wird durchgehend bewacht!"

Noch immer durch den Wind fuhr ich mir durch meine Haare; meine Hand blieb stecken, meine Haare waren zu lang und zu zerzaust. Ich seufzte.

Markus wandte sich leicht ab, schaute auf den Boden, als wenn es ihm peinlich wäre. "Es gibt...einen Geheimgang."

Meine Kinnlade klappte herunter. "Es gibt einen was?", rief ich aus, etwas zu laut, und Markus kniff die Augen zusammen.

Mir wurde etwas bewusst. Tommy McMiller hatte sämtliche Geheimkorridore kennen müssen, um unbemerkt bis zum Nordturm gelangen zu können; er hatte sicher aus diesen gekannt.

"Ein Geheimgang", murmelte Markus. "Falls bei schweren Angriffen Gefangene schnell verlegt oder versteckt werden müssen. Er führt in die Lagerräume."

"...von wo man relativ leicht fliehen kann."

Er nickte. Er kratzte sich kurz am Kinn, als würde er nachdenken müssen. "Sie meinten, er wäre alleine gewesen, nicht wahr?"

"Ja, wieso?"

"Selbst wenn er allein fliehen hätte können, sich selbst befreien wäre unmöglich gewesen. Er muss gelogen haben, Majestät."

Ich nickte, sagte jedoch nichts dazu. Es war ja klar gewesen. Kein Einzelgänger wäre so weit gekommen. Ganz bestimmt hieß der Junge Mann auch nicht Tommy McMiller und ganz bestimmt hatte er auch nicht nichts gegen meine Familie. Doch seine Motive blieben mir immer noch unklar.

"Majestät?"
"Läuft bereits die Suche nach ihm?"
"Wir haben Männer in ganz Berlin informiert."
"Das reicht niemals. Wenn er den Zug genommen hat, ist er bereits über alle Berge. Entweder weitern Sie die Suche aus, oder wir vertrauen auf seine Worte."

Markus runzelte die Stirn. "Ich verstehe nicht ganz."

Ich hörte nicht auf ihn, ich war schon längst in meinem Zimmer verschwunden und suchte mir einen Mantel heraus. Als ich mich ihm wieder zuwandt, schaute er mich irritiert an. Ich warf mir den Mantel über und rauschte an ihm vorbei.

"Tut mir leid, Markus, ich muss etwas nachschauen gehen." Denn mir waren seine Worte wieder eingefallen.

"Schauen Sie am Fuße des Nordturms nach, dort ist der Beweis, warum Sie mir glauben sollten."

Der Weg entlang des Grundes des Nordturms war beschwerlich. Die Gärtner schienen hier nicht viel Pflanzen zu wollen, da im Schatten des Schlosses ohnehin die meisten eingegangen wären. Die trockenen Büsche, die sich mit spitzen Ästen gegen die Vögel wehrten, hingen im Weg und die Gräser waren lange nicht mehr beschnitten worden. Ich fluchte, als ein Strauch spontan entschied, mitten in meinem Gesicht landen zu wollen.

Ich blieb stehen und strich mir das seltsame Gefühl vom Leib, als es irgendwo raschelte; ich blickte mich um. Kein Vogel war aufgeflogen. War da etwa jemand?

"Hallo?" Keine Antwort. "Ist da irgendwer?"

Erst dachte ich, es täte sich nichts, doch dann raschelte es erneut und ein Mädchen stahl sich kurze Zeit später in mein Blickfeld. Sie war in meinem Alter, hatte wilde Haare, die ihr wie dunkles Karamell über die Schultern flossen, und steckte in einer Zofentracht.

"Majestät", murmelte sie und knickste. Ich war ziemlich verwirrt darüber, jemanden hier anzutreffen, und auch sie hatte wohl nicht mit mir gerechnet.

"Was machen Sie hier?", fragte ich, bevor sie es tun konnte. Sie zögerte mit ihrer Antwort keinen Augenblick.

"Ich warte auf jemanden, Majestät."

Ich verstand. Ich konnte spüren, wie meine Augen aufblitzten. Ein Geheimtreff also; vermutlich für eine Liebelei. Fast musste ich grinsen. "Auf wen denn?"

Sie legte den Kopf schief. Sie hatte etwas Verspieltes an sich.

"Das schickt sich für eine Prinzessin doch nicht, so neugierig zu sein."

Oh. Berührungsängste hatte sie also nicht. "Stimmt. Es schickt sich für eine Zofe aber auch nicht, so frech zu sein." Das Mädchen wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren.

"Ich...eh...lasse Sie nun lieber allein, denke ich", nuschelte sie und kratzte sich am Kopf. In ihrer Hand glitzerte etwas; ein Ring. Ich runzelte die Stirn. Zofen war es normalerweise untersagt, Schmuck zu tragen.

"Den Ring - woher haben Sie den?"

Sie riss erschrocken die Augen auf. Ertappt, dachte ich mir und schmunzelte.

"Ich...ähm...", stotterte sie unbeholfen, "den habe ich hier gefunden. Lag einfach herum. Ich dachte, ich könnte ihn mir nehmen. Tut mir leid." Beschämt schaute sie auf den Boden, worauf ich nickte.

"Ist schon gut. Aber ich werde ihn Ihnen trotzdem abnehmen müssen."

" Sind Sie sicher? Können Sie nicht eine Ausnahme machen?"

"Tut mir leid, nein." Erst musste ich etwas prüfen, vielleicht konnte er mir irgendetwas verraten.

Niedergeschlagen nickte die Zofe, zog den Ring vom Finger und streckte ihn mir entgegen. Danach huschte sie zurück auf den Weg zum Schloss, bevor ich noch etwas sagen konnte.

Als sie aus meiner Sichtweite entschwunden war, richtete ich meinen Blick auf den Ring in meiner Hand. Er schien zunächst unauffällig zu sein, schlicht, silbern. Ich drehte ihn etwas und mir blieb der Atem weg.

Auf der Innenseite, zart und unscheinbar und nur im Sonnenlicht zu erkennen, prägt den Ring ein einzelner Polarstern.

Die Schwester ; a selection story | 1. FassungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt