25) Auf Abwegen

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~~~Quenny~~~

Ich musste wohl noch einmal kurz eingenickt sein, nachdem ich gefrühstückt hatte. Ich fühlte mich inzwischen so viel besser, kraftvoll und ausgeruht. „Ally?", rief ich, aber es kam keine Antwort. Ich lauschte und rief erneut, doch alles blieb still.

Keine weitere Minute würde ich es in meinem strohbedeckten Bett aushalten oder in diesem engen Zimmer. Ich erhob mich langsam von meinem Lager und trippelte zur Tür, ohne dass mich Schwäche oder Schwindel überkam. Das musste doch ein gutes Zeichen sein. Ich fühlte mich gesund. Alles war wieder bestens, Celiens Medizin hatte gewirkt. Etwas anders hatte ich nicht erwartet. Ich lief in die Küche. Sie war leer. Von Ally war nichts zu sehen. Ich war alleine.

Ohne weiter nachzudenken, fand ich mich am Fuß der Treppe wieder. Ich blickte die steilen Stufen hinunter, bevor ich mich mit zögerlichen Schritten an den Abstieg machte. Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte, aber es drängte mich ins Freie. Ich brauchte frische Luft und musste den blauen Himmel über mir sehen. Vom Kranksein hatte ich mehr als genug.

Draußen angekommen, atmete ich einmal tief ein und schloss meine Augen. Sofort hatte ich sein Bild vor Augen. Durchdringende graue Augen, die mich aus einem Gesicht unter einer schwarzen Kapuze eindringlich musterten und mir etwas mitzuteilen versuchten. Der geheimnisvolle Junge. Warum musste ich schon wieder an ihn denken? Mir schien, als wollte er mir etwas sagen, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich rieb meine Augen und verscheuchte sein Bild aus meinen Gedanken.

Ich stand mitten vor dem großen Fenster der Schmiede. Zum Glück standen Ollf und Parrik mit dem Rücken zu mir vor der Esse und waren beschäftigt. Ich wollte nicht von ihnen oder irgendjemandem sonst gesehen werden. Sie hätten mich nur wieder hinauf in meine Kammer geschickt, wie ein kleines Kind. Aber ich war kein kleines Mädchen mehr. Ich duckte mich und schlich unterhalb der Fensterbank an der Schmiede vorbei. Es war einfach. Ich schaute hinüber zu Celiens Apotheke, das Schild an ihrer Tür war umgedreht. Sie war nicht da. Bestimmt hatte sie irgendeine ihrer täglichen Besorgungen zu erledigen. Schade, ich hätte sie gerne besucht, aber andererseits, da war ich mir sicher, hätte sie mich bestimmt augenblicklich wieder nach oben ins Bett geschickt und mir Ruhe verordnet. Aber darauf hatte ich keine Lust, im Gegenteil ich fühlte mich wie neugeboren und als könnte ich Bäume ausreißen. Den ganzen Wald, wenn ich wollte.

Ollfs tiefe Stimme ließ mich aufhorchen. Ich zuckte zusammen. Er hatte mich entdeckt. Ich blieb still und geduckt. „Also stimmt es, dass im alten Leuchtturm jemand haust." Ich konnte ihn laut und deutlich verstehen. Vermutlich stand er jetzt direkt vor der Werkbank, die sich vor dem Fenster befand.

„Ja, Celien und ich haben gestern Abend gesehen, dass dort ein Feuer brannte und jemand dort war", hörte ich die Stimme meines Bruders antworten.

„Die Wachen sind vorhin ausgeritten, um sich umzuschauen", berichtete Ollf. Vorsichtig schlich ich mich weiter. Ich wollte nicht entdeckt werden und Celien konnte auch jederzeit zurückkommen. Ich wusste immer noch nicht, was ich vorhatte oder wohin ich eigentlich gehen wollte. Aber ich wollte nicht wieder hinein, also lief ich einfach darauf los ohne großartig darüber nachzudenken, wo ich eigentlich hinging. Meine Füße führten mich den einzigen Weg, den ich bisher alleine durch Waldhafen genommen hatte. Erst am Tor zum oberen Viertel bemerkte ich, wohin ich eigentlich gegangen war. „Ich bin Quenny, Stieftochter von Ollf. Ich will zu Dinko, Stoffe ansehen", teilte ich der Wache die ersten Worte mit, die mir einfielen. Sie ließen mich passieren und führten ihre angeregte Unterhaltung weiter, ohne mir überhaupt große Beachtung zu schenken.

Da ich es gesagt hatte, lief ich auch in Richtung der Stoffhandlung. Dabei schaute ich mich in aller Ruhe im Viertel um, bewunderte die großen, mehrstöckigen Häuser und die Läden, in denen man alle möglichen Waren erwerben konnte. Gewürze, Schmuck, Stoffe und Gewänder, Parfum und Seifen und derlei mehr, wenn man das nötige Geld dazu hatte.

Waldhafen - Narben der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt