62) Wunsch und Wirklichkeit

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Mein Bein schmerzte bei jedem Schritt. So weit war mir der Weg hinunter zum Hafen noch nie erschienen. Rastens Worte hallten in meinem Kopf nach, in meinem Herzen tobte ein Sturm aus Gefühlen, die ich nach wie vor nicht zu benennen wusste.

Dass ich ausgerechnet jetzt zu Verenne eilte, machte das Gerede im Viertel nicht besser, aber ich setzte alle Hoffnung darauf, dass sie mir würde helfen können. Mir oder wenigstens Celien. Es war so ungerecht, so verwirrend.

Ich öffnete die Tür und humpelte in meinen vertrauten Winkel im hintersten Eck, wo ich mich auf einen Stuhl fallen ließ. Ein Stöhnen entwich meiner Kehle, während die Finger meiner linken Hand über meinen schmerzenden Oberschenkel rieben. Keiner hörte oder beachtete mich.

Mein Blick glitt suchend über die Mädchen an der Theke und den Tischen im Schankraum. Verenne war nirgends zu sehen.

Dafür tauchte die hochgewachsene Gestalt von Siro auf.

„Wo ist Verenne?", erkundigte ich mich.

„Sie hat Kundschaft." Siro klopfte mir auf die Schultern und stellte einen Krug seines besten Starkbiers vor mir auf dem Tisch ab. „Hab dich lange nicht gesehen. Dafür hab ich einiges von dir gehört. Treibst dich mit dem Mädel im Wald herum." Das süffisante Grinsen auf seinem Gesicht war mehr als ich ertragen konnte.

„Wie geht es Verenne?", fragte ich stattdessen in einem schwachen Versuch, von mir abzulenken und er zog die Augenbrauen nach oben.

„Sag bloß, die Kleine genügt dir nicht.?" Sein kehliges Lachen hallte durch den noch ziemlich leeren Raum und am Nebentisch drehten sich ein paar Seeleute zu mir um und musterten mich prüfend. Ihr Blick verharrte lange auf meinem Gesicht. Nichts Neues, ich kannte diese Blicke. Mit der Hand strich ich meine Haare ins Gesicht, so wie ich es immer tat, wenn ich mich unwohl und beobachtet fühlte.

Am liebsten wäre ich wieder aufgestanden und gegangen, aber ich musste mit Verenne sprechen. Dringend. Mir war klar geworden, dass ich Celien mochte und es mir gefallen hatte, so mit ihr am Lagerfeuer zu liegen und sie zu küssen. Viel zu sehr. Aber ich wusste nicht, was sie in mir sah. Ich wusste nicht einmal, ob ich dies überhaupt wissen wollte. Was konnte jemand schon in mir sehen?

Nach der Sache mit dem Heiratsangebot traute ich mich nicht, sie danach zu fragen. Noch einen Rückschlag war ich nicht in der Lage zu verkraften. Und wenn ich ehrlich war, erwartete ich nicht, dass es ihr etwas bedeutet hatte. Jedenfalls hatte sie kein Wort mehr darüber verloren.

Sie sah mich bestenfalls als einen guten Freund, der sie hin und wieder begleitete, wenn ihr Bruder keine Zeit fand. Mehr nicht, wenn überhaupt und die Nacht im Wald war mit Sicherheit völlig bedeutungslos für sie. Ihr war kalt gewesen und sie hatte Gesellschaft gebraucht und ich war eben zufällig in der Nähe. Eine schöne Erinnerung für einen Jungen wie mich, mehr nicht. Und auch Rastens drängende Worte machten mir zu schaffen. War es wirklich die beste Lösung, sie zu heiraten? Ich zweifelte an seiner Aussage. Er sah die Sache zu einseitig, dachte nur an sich und an eine einfache Lösung.

Verenne würde mir sagen, was ich tun sollte oder mich trösten können. Ich brauchte sie. Erneut wanderte mein Blick zu der schmalen Stiege zum oberen Stockwerk, wo die Zimmer der Mädchen lagen. Sie blieb leer.

Ich nahm einen weiteren Schluck aus dem großen Gefäß vor mir auf dem Tisch.

Allmählich kamen immer mehr Seeleute, Fischhändler und Handwerker und der Kessel füllte sich zunehmend. Das Stimmengewirr wurde mit jedem Gast lauter. Einige von ihnen verschwanden mit einem der Mädchen nach oben, aber das zierliche Mädchen mit den langen blonden Haaren, das ich so sehnsüchtig erwartete, tauchte immer noch nicht auf.

Waldhafen - Narben der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt