4) Eine unbeantwortete Frage

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„Macht dir dein Bein noch Probleme?"

Celiens Frage schwirrte mir immer noch durch den Kopf, als ich mich bereits auf meine schmale Pritsche aus Stroh gelegt hatte. An Schlaf war nicht zu denken, wieder einmal.

Ich war es nicht gewohnt, dass mich jemand so offen danach fragte. Ich war es gewohnt, verstohlene Blicke zu ernten oder unverhohlen angestarrt zu werden. Ich bemerkte sehr wohl die Köpfe, die sich schnell wegdrehten, wenn ich zurückstarrte. Damit konnte ich umgehen, oder eben auch nicht. Ich konnte mich aber nicht erinnern, wann mich jemand das letzte Mal nach meinem Befinden gefragt hatte. Oder ob überhaupt jemals jemand danach gefragt hatte. Deswegen hatte mich ihre Frage so unvorbereitet getroffen. Aber nicht nur in dieser Hinsicht unterschied sich Celien von anderen Menschen.

Nur manchmal, wenn ich viel gelaufen bin", hätte ich sagen können. „Das lange Stehen beim Schmieden geht inzwischen." Es hätte mir nichts ausgemacht, mit ihr darüber zu reden. Vielleicht wäre es sogar gut gewesen.

Aber wie immer fielen mir die richtigen Antworten erst dann ein, wenn es zu spät war.

Auch wenn Celien mich anschaute, war es anders als bei anderen. Es fühlte sich anders an. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie auf meine Narben schaute, sondern, dass sie dahinter blickte. Mich als Person sah, auch wenn es sich selbst in meinen eigenen Gedanken blöd anhörte. Es machte mir nichts aus, wenn sie mich ansah, während ich bei anderen den Drang verspürte, mich sofort verstecken zu müssen.

Celien war damals noch ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen gewesen, als mich die Männer aus meinem Dorf nach dem Brand zu ihrer Mutter brachten. Ich konnte mich gut daran erinnern, wie sie stets neben ihrer Mutter stand und ihr bei der Arbeit zusah, alles in sich aufsog, was diese ihr erklärte. Wie sie mir später die Verbände wechselte, meine Wunden wusch und irgendeine nach Kräuter riechende Salbe auftrug, die Linderung brachte.

Manchmal erwachte ich nachts aus einem Traum und sah sie noch immer vor mir stehen, zwei lange, hellbraune Zöpfe auf jeder Seite und meine Hand haltend. Ich konnte mich nicht erinnern, ob es nur ein Traum war, oder ob sie wirklich meine Hand gehalten hatte. Ich konnte sie nicht danach fragen. Ich sprach nicht mit ihr. Und außerdem traute ich mich nicht. Ich war ein Feigling.

Aber vielleicht war es mit Celien deswegen anders. Sie hatte mich von Anfang an so gesehen. Sie hatte gesehen, wie die wüste, fleischige, rote Fläche, die nach dem Feuer mein Gesicht war, verheilte, und sich Narben bildeten. Es hätte schlimmer für mich enden können, das wusste ich gut genug. Nur dank der Kräuterkunst ihrer Mutter waren meine Verletzungen so gut genesen. Ich hätte ein Auge verlieren oder sogar sterben können. So wie meine Eltern und meine beiden Brüder in dieser Nacht gestorben waren.

So trug ich lediglich ein paar Narben im Gesicht, die mich daran erinnerten, was ich alles verloren hatte. Aber ich trug sie auch mit Stolz, denn sie standen dafür, dass ich Quenny retten konnte. Auch wenn ich regelmäßig vergaß, dass ich zu meinem Aussehen stehen und mich nicht deswegen verstecken sollte. Nachts ließ sich dieser Vorsatz leicht treffen, aber am Tag scheiterte ich immer wieder aufs Neue an der Umsetzung. Aber die Erinnerung an diese Nacht würde ich nie vergessen, denn ich träumte oft davon.

Ich erwachte vom Prasseln des Feuers und dem Knacken des Holzes. Ein Geräusch, das auf ewig in mein Gedächtnis eingebrannt sein würde. Dann hörte ich mich schreien, sah Quenny in ihrem Bett liegen, rannte zu ihr, packte sie und hob sie hoch, damit wir schneller waren. Ich trug sie die Treppe hinunter, während um uns herum alles in Flammen aufging. Ein Balken löste sich über uns und fiel auf uns herunter. Ein stechender Schmerz traf mich am Beim. Mit letzter Kraft schubste ich Quenny nach draußen, bevor um mich herum alles schwarz wurde - und ich schreiend und schweißgebadet erwachte.

An diesem Punkt endeten meine Erinnerungen an jene Nacht vor drei Jahren. Ein paar Männer aus meinem Dorf zogen mich in letzter Sekunde aus dem brennenden Hauseingang und es grenzte an ein Wunder, dass ich überlebt hatte. Aber ich wollte leben, auch wenn ich dafür einen Preis zahlen musste. Es gab nichts umsonst im Leben, diese Lektion hatte ich auf die bitterste Art gelernt.

Aber ich würde den Preis immer wieder zahlen, um Quenny zu retten.

Und wieder einmal versuchte ich mir einzureden, dass es nicht so schlimm sei. Ein paar sichtbare Narben und ein Bein, das etwas kürzer war als das andere. Und wieder einmal konnte ich es mir selbst nicht glauben, obwohl ich es doch so gerne glauben wollte. In der Dunkelheit der Nacht schien es nur eine Kleinigkeit zu sein, doch im hellen Licht des Tages gelang es mir nicht, etwas anders an mir zu sehen als diese Makel, die sich selbst hinter meinen Haaren nicht gänzlich verstecken ließen, auch wenn ich es immer wieder verzweifelt versuchte.

Aber auch in Celiens Gegenwart versuchte ich, mein Gesicht dahinter zu verstecken, um ihr den unangenehmen Anblick zu ersparen. Erneut kehrten meine Gedanken zu ihr zurück. Sie versorgte alle Arten von Verletzungen. Es machte ihr nichts aus. Sie hatte Schlimmeres gesehen.

„Macht dir dein Bein noch Probleme?"

Bestimmt hatte sie gefragt, um mir zu helfen. Hatte irgendeine Salbe im Kopf, die sie mir zubereiten könnte. Celien war nicht neugierig oder mischte sich in Dinge ein, die sie nichts angingen. Sie hatte noch nicht einmal gefragt, was ich im Kessel gemacht hatte. Andererseits, warum sollte sie fragen. Es musste für sie offensichtlich sein, aus welchem Grund ein Junge wie ich, dort hinging.

Unwillkürlich verzog sich mein Gesicht zu einer Grimasse. Es war mir peinlich, dass sie dachte, ich hätte ein Freudenmädchen besucht. Aber ich konnte ihr schlecht erklären, dass es anders war.

Nicht einmal Rasten wusste davon. Wir redeten nicht über so etwas. Eigentlich war es mir gleichgültig, wenn die Leute mich bei Verenne sahen. Sollten sie doch denken, dass ich ein gesundes Interesse an Mädchen hatte und es im rauchigen Kessel auslebte. Schließlich gab es sonst niemanden in meinem Leben, der diese Rolle ausfüllen konnte. Und es würde ihn auch nie geben für einen Jungen wie mich. Narbengesicht. Hinkebein. Wer würde das schon wollen? Wer würde mich schon wollen?

Irgendwann, zwischen meinem Zerfließen in Selbstmitleid und meinen vergeblichen Versuchen mich aufzubauen, musste ich schließlich doch eingeschlafen sein, denn ich wachte am nächsten Morgen auf, als jemand laut an meine Kammertür klopfte. Ollfs allmorgendlicher Weckruf. Kurze Zeit später machte ich mich auf und begab mich hinunter, um einen weiteren Tag in der Schmiede zu verbringen.



Waldhafen - Narben der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt