9) Sicherheitsvorkehrungen

102 13 3
                                    

***Celien***

Rasten war bereits gegangen, als ich an diesem Morgen aufstand. Er musste das Haus schon in aller Frühe verlassen haben. Sein Mantel und seine Uniform hingen nicht mehr an dem Haken hinter der Tür, an dem sie üblicherweise hingen, und als ich vorsichtig in seine Kammer schaute, war sein Bett leer. Ich hatte ihn nicht gehört. Er musste wirklich sehr leise gewesen sein. Ich war kein Langschläfer und die Sonne stand noch tief hinter den Dächern der Häuser. Für gewöhnlich war mein Schlaf leicht und das kleinste Geräusch ließ mich bereits aufhorchen.

Seltsam, dachte ich. Wahrscheinlich hatte Rasten vermeiden wollen mich zu sehen, um mir nicht erzählen zu müssen, was los war. Ich hatte sein merkwürdiges Verhalten und sein Versprechen vom Vorabend nicht vergessen.

Ich aß die Reste des Brotes, ehe ich mich nach unten begab und an meine Arbeit machte. Ich schaute zuerst nach meinen frisch gesäten Kräutern, goss sie reichlich, bevor ich wieder nach drinnen ging.

Im Laufe des Tages kamen einige Kunden vorbei, die Arzneien abholten oder bestellten und um die Mittagszeit brach ich zu einer kleinen Lieferrunde auf. Vor allem die Patienten, die schlecht zu Fuß waren, waren sehr dankbar darüber, dass ich ihnen ihre Medizin nach Hause brachte. Auf dem Rückweg besorgte ich mir etwas frisches Obst und Gemüse von einer Händlerin auf dem unteren Markt. Ich wusste nicht, ob ich meinen Bruder am Abend sehen würde. Aber mein Gefühl sagte mir, dass ich mal wieder einen Abend alleine verbringen würde. Eigentlich machte es mir nichts aus, ich konnte mich gut mit mir selbst beschäftigen und brauchte keine Gesellschaft. Aber Rastens Worte gingen mir trotzdem nicht aus dem Kopf und ich musste ständig darüber nachdenken, was ich mir von meinem Leben wünschte.

Ich wollte Kräuterfrau sein. Ich wollte den Menschen helfen und ich tat es gerne. Ich war gut darin. Wer sagte denn, dass ich deshalb für immer alleine bleiben würde? Vielleicht würde ich ja doch heiraten, eines Tages. Rasten war im Unrecht. Und außerdem, er hatte gut reden. Schließlich war er auch noch nicht verheiratet. Wen hätte er denn, wenn mir etwas zustieße? Schließlich war die Arbeit als Heilerin nicht ganz ungefährlich, wie sich am Schicksal unserer Mutter gezeigt hatte. Sie war im vorletzten Jahr zu einem kranken Seemann gerufen worden. Die Krankheit hatte sich als Seuche herausgestellt, die sich rasend schnell in den ärmlichen Vierteln von Waldhafen ausgebreitet und auch vor unserer Mutter nicht Halt gemacht hatte.

Als sie den Ernst der Lage erkannte, ordnete sie an, die Erkrankten streng von den Gesunden zu trennen. Alle Patienten wurden auf ein eilig geräumtes Schiff gebracht, auf dem ein Notlager errichtet wurde. Die Ärzte und Pflegerinnen durften es nur betreten, wenn sie sich ein Tuch um Mund und Nase banden, welches zuvor in einen Kräutersud getunkt worden war. Und anschließend bestand sie darauf, dass jeder, der das Schiff verließ, sich in einem anderen Bottich die Hände wusch. Die Seuche forderte unzählige Opfer, aber meine Mutter konnte durch ihr kluges Vorgehen viele Todesfälle verhindern, wenn auch nicht ihren eigenen. Sie starb kurz bevor die Seuche endgültig eingedämmt wurde, als eine der letzten daran. Gegen manche Dinge war man einfach machtlos und so waren Rasten und ich, mit neunzehn und sechzehn Jahren, bereits auf uns alleine gestellt gewesen. Eine Träne hatte sich in mein Auge geschlichen und ich blinzelte dagegen an. Sie fehlte mir immer noch sehr. Aber ich hatte Rasten und ich wusste, dass ich mich auf meinen Bruder verlassen konnte. Mutter wäre stolz auf uns, wenn sie uns sehen könnte.

Unser Vater war bereits einige Jahre zuvor verstorben, nachdem er sich bei einem Jagdunfall schwer verletzt hatte. So schwer, dass auch unsere heilkundige Mutter ihn nicht mehr hatte retten können. Sie fehlten mir beide sehr, auch wenn es inzwischen Tage gab, an denen ich kaum an sie dachte. Mit der Zeit lernte ich immer besser, mit den erlittenen Verlusten zu leben. Manchmal gelang es mir nicht einmal mehr, mir ihre Gesichter oder ihre Stimmen ins Gedächtnis zu rufen.

Waldhafen - Narben der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt