30) Eine schmerzhafte Erkenntnis

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+++Parrik+++

„Wo warst du?", fragte ich meine Schwester, kaum dass ich ihr Kämmerchen unter dem Dach betreten hatte.

Sie blickte von dem kleinen Schreibtisch auf, an dem sie saß und etwas mit einem Kohlestift auf ein Stück handgeschöpftes Papier kritzelte. „Wo war ich wann?", fragte sie mich und ihr Blick fiel wieder auf das Blatt vor ihr.

„Heute Mittag, als ich nach dir sehen wollte", erklärte ich. „Du warst nicht im Bett!"

„Ich war lange genug im Bett!", entgegnete Quenny aufgebracht. „Auch wenn Celien es nicht glaubt, mir geht es gut."

„Du solltest auf Celien hören, wenn sie sagt, dass du dich ausruhen musst!", tadelte ich sie. "Celien weiß, was sie sagt und du zeigst dich mal wieder von deiner stursten Seite. Also, wo warst du?" Ich wiederholte meine Frage, bevor sie auf meinen Vorwurf eingehen konnte.

„Wo soll ich schon gewesen sein?", erwiderte Quenny immer noch zickig. „Ich war mit Ally im Stall bei den Pferden und Wäsche waschen." Sie klang, als würde sie einem kleinen Kind erklären, dass die Erde eine Kugel und der Himmel blau ist.

„Du solltest langsam machen und dich nicht gleich übernehmen. Du hattest gestern noch hohes Fieber", warf ich ein. "Wie konnte Ally dich nur mitnehmen und arbeiten lassen?"

„Keine Sorge. Ally hat mich nicht helfen lassen. Und ich habe ihr nur ein paar Handlangerarbeiten abgenommen. Vor allem habe ich nach der Zeit im Bett etwas Bewegung und frische Luft gebraucht", erklärte sie mit geduldigem Tonfall.

Ich atmete erleichtert aus, mein Ärger war verflogen. "Auf Ally ist Verlass."

Genaus das waren auch Ollfs Worte gewesen, als ich nach der Mittagspause aufgebracht in die Schmiede gestürmt und am liebsten sofort losgegangen wäre, um nach Quenny zu suchen.

„Bestimmt hat Ally sie zu den Pferden mitgenommen", hatte er gesagt. „Jetzt beruhige dich mal, auf Ally ist Verlass. Frische Luft tut der Kleinen gut. Ally passt schon auf sie auf."

Also war ich geblieben, beruhigt von seinen Worten. Natürlich, so musste es sein. Und so war es schließlich auch gewesen.

„Was machst du da eigentlich?", fragte ich und trat an ihren Tisch. Neugierig schaute ich auf das kleine Stückchen Papier, welches vor ihr lag. Buchstaben oder zumindest hielt ich die schwarzen Linien und Striche dafür, waren darauf geschrieben. „Ich übe", erklärte sie. „Wenn ich schon zuhause bleiben muss, dann will ich die Zeit wenigstens nutzen", ergänzte sie mit trotziger Stimme.

„Du übst was?" Ich zog die Stirn in Falten.

„Ich übe schreiben", erklärte sie herablassend. „Bist du eigentlich immer so schwer von Begriff? Ein bisschen Kopfarbeit täte dir auch gut." Ich knuffte sie für ihre freche Antwort in die Seite und zog ihr schnell das Schriftstück weg, hob es in die Höhe und begutachtete es.

„Na dann lass mal sehen." Ich schwenkte es hoch über ihrem Kopf.

„Lies doch mal vor", forderte sie mich auf. "Wenn du kannst!" Sie wusste genau, dass ich es nicht konnte.

„Ich denk' gar nicht daran!" Ich würde mich nicht von meiner kleinen Schwester bloßstellen lassen.

„Dann kannst du es mir ja wieder geben", verlangte sie und streckte die Hand aus.

"Ein Pech, dass du so klein bist." Sie hatte keine Chance den Zettel zu erreichen. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, wie stur und clever sie war, als sie flink auf ihren Stuhl kletterte und nach dem Papier griff. Im letzten Moment machte ich einen Schritt zurück und sie fasste ins Leere.

Waldhafen - Narben der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt