1. Der Streit

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Die Autofahrt war lang. Als ich meine Hand aus dem Fenster streckte, konnte ich den kalten Wind spüren. Immer dunkler wurde es um mich herum, die Bäume größer und dicker. Es roch nach Regen. Ich sah in den sternenklaren Himmel. Sehnsüchtig schaute ich hinaus in die Nacht. Wie lange ich noch in diesem Auto verbringen würde, wusste ich nicht. Ich wusste nicht einmal, wieviel Zeit vergangen war, seitdem ich meine Eltern nicht mehr gesehen hatte.

Ich hatte geschrien, geweint, um mich getreten und gefleht. Ich war noch immer in der Gewalt von zwei merkwürdigen Typen. Irgendwann hatte ich die Hoffnung aufgegeben. Ich sagte nur noch das nötigste, nicht mehr in der Lage meine Stimme richtig zu benutzen. Es würde eh nichts bringen. Niemand machte sich die Mühe mir zuzuhören. Statt im Kofferraum gefesselt und geknebelt, saß ich jetzt auf dem Rücksitz. Ich wusste, die Tür war verriegelt und sie wussten, ich würde nicht mehr schreien. Striemen auf dem Rücken und blaue Flecke übersäten meinen Körper. Bestrafungen, wenn ich mich versucht hatte zu wehren. Meine Stimme vermutlich mittlerweile rau durch meine Schmerzensschreie. Mein Hals brannte. Ich hatte Durst...

Wo waren wir? Waren wir überhaupt noch im gleichen Land, in dem meine Eltern lebten und sich eventuell Sorgen machten? Der einzige kleine Funken Hoffnung war, dass sie mich vielleicht noch nicht aufgegeben hatten. Oder hatten sie sich damit abgefunden, dass ich wieder einmal abgehauen war? Suchten sie überhaupt nach mir? „Mich vermisst sowieso niemand", hallte meine eigene Stimme in meinem Kopf wider.

Rückblende:

Wieder einmal stritt ich mich mit meinen Eltern. Hielten mir eine Standpauke über meine Zukunft. Mein Vater hatte seine Kontakte genutzt, um mir einen Platz an einer Eliteuniversität zu verschaffen. Nachdem es nichts genutzt hatte ihnen klar zu machen, dass ich meine eigenen Entscheidungen fällen möchte, beendete ich den Streit, indem ich in mein Zimmer stapfte. Ich verschloss die Tür und warf mich aufs Bett. Ich drehte mich hin und her. Das Geklopfe meiner Eltern ignorierte ich, bis ich es nicht mehr aushielt. Meine Bitte mich endlich in Ruhe zu lassen, wurde ignoriert. Weiteres Klopfen und Gemeckere.

„Hör auf mit dem Unsinn und mach die Tür auf. Ich bin immer noch nicht fertig mit dir, junge Dame", hörte ich meinen Vater. „Schatz, komm wieder runter. Wir meinen es doch nur gut mit dir", bat jetzt auch meine Mutter.

Ich setzte mir seufzend meine Kopfhörer auf und machte irgendeine Musik an. Alles war besser als das alberne Gequatsche vor meiner Tür. Ich schüttelte den Kopf. Ein weiteres Gespräch würde wieder zum gleichen Ergebnis führen. Ich schaute kurz hinaus und hatte dann eine Entscheidung gefasst. Ich ertrug dies alles nicht mehr. Ich musste hier weg. Freiheit von Regeln und Verantwortung. Nur ich auf dem Weg in eine noch nicht entdeckte Zukunft. Ich lächelte mich selbst im Spiegel an und nickte. Diesmal hatte ich erstmal nicht vor, wieder zurückzukehren wie sonst. Der Drang nach Unabhängigkeit, Abenteuer und Lebenslust zu groß. Kein Druck, keine Befehle, keine Intoleranz oder Scham über das Verhalten und das Wesen der eigenen Tochter.

Frustriert aber entschlossen ging ich also zu meinem Schrank und nahm mir eine Tasche heraus. Einige Klamotten, Utensilien aus dem Bad, Wasser, einen Apfel und Kekse und sonst noch alles notwendige lag Minuten später vor mir. Ich sah mich noch einmal um und griff dann nach der Tasche. Mein Handy plus Ladekabel nahm ich erstmal mit. Die Sim-Karte entfernte ich jedoch. Auch wenn dies vermutlich nicht nötig war... Ich vermutete, dass mein Vater mich lieber für tot erklären ließ als zuzugeben, dass seine jüngste Tochter vor ihm und seinen Anschuldigungen zu fliehen versuchte. Mich suchen lassen und dabei seine Schuld an der Flucht der Tochter zuzugeben, war viel zu beschämend. Enttäuschung kam in mir auf als ich an meine Mutter dachte. Sie tat immer was mein Vater sagte. Er war der Mann im Haus; sie hatte nichts zu sagen. Ich schüttelte die Gedanken an sie ab und öffnete mein Fenster. Warme Herbstluft kam mir entgegen. Ein letztes Seufzen entfuhr mir, dann kletterte ich hinaus in die Dunkelheit. Kurze Zeit später verschwand ich schon in der Dunkelheit. Hielt mich im Schatten der Häuser, lief durch Parks.

Ich hatte mir ein Cap aufgesetzt und es tief in mein Gesicht gezogen als ich in einen Bus stieg, der mich raus aus der Stadt fuhr. An der Endhaltestelle stieg ich aus und sah mich um. Immer noch zu viele Häuser. Meine Füße taten langsam weh. Ich biss allerdings die Zähne zusammen und ging weiter.

Wenig später kam ich an einen großen See fernab der Häuser. Dort machte ich halt. Ich war froh, noch an meinen Schlafsack gedacht zu haben. In der Nähe des Sees machte ich mir einen kleinen Schlafplatz zwischen Bäumen. In der Hoffnung so nicht so gut zu sehen zu sein. Kurz darauf fielen mir auch schon die Augen zu.

Kalte KellerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt