Ruhig versuchte er, sich den Tequila einzuschenken, aber obwohl er sich wirklich bemühte, verschüttete er die Hälfte, so sehr zitterte er.
Schnell stellte er das Glas wieder auf den Küchentisch, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte, dann wischte er sich mit seiner zittrigen Hand den Schweiß von der Stirn.
Die letzten fünf Tage waren wohl die schlimmste Zeit seines gesamten Lebens gewesen: Martín hatte kaum geschlafen, seine Stimmung verschlechterte sich von Minute zu Minute wegen des ganzen Alkohols und er hatte nur selten das Wohnzimmer verlassen.
"Wir haben für Sie live aus Madrid die neusten Erkenntnisse von der Fábrica Nacional de Moneda y Timbre: Laut dem Polizeisprecher konnten auch die restlichen Geiseln unverletzt fliehen..."
So schnell wie es nur ging (wenn man eben betrunken war) lief Martín mit dem Glas Tequila in der Hand zurück ins Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa fallen ließ.
Sofort stellte er den Fernseher auf lauter.
"...die Polizei hat diesen Überfall nun offiziell als beendet und größten in der Geschichte Spaniens bezeichnet. Eine Spezialeinheit stürmte gegen Spätnachmittag das Gebäude, jedoch konnten sich die Geiselnehmer durch einen Tunnel retten."
Erleichtert atmete Martín auf.
Andrés würde wieder zu ihm kommen, wie er es damals im Kloster versprochen hatte, sie würden gemeinsam irgendwo in der Karibik leben, am Strand, in der Sonne.
Nur sie beide, zusammen...Der Mann ließ sich nach hinten fallen und starrte an die Decke, lächelnd, da er daran denken musste, was sein Freund erst sagen würde, wenn er dessen Wohnung hier sah.
"Martín, zu dir passt eine Stadt wie Buenos Aires oder Madrid. Mit Stil. Und nicht so ein Drecksloch wie Palermo."
Ja, so etwas in der Art würde Andrés sagen, während er breit grinste und seine dunklen Augen freudig funkelten."Allerdings, so bestätigte die Polizei, konnten sie nur entkommen, weil einer von ihnen, genauer gesagt Andrés de Fonollosa alias Berlín, sich für sein Team opferte und ihnen so Zeit verschaffte, damit sie fliehen konnte. Er wurde mit 17 Schüssen getötet und verstarb noch im Tresorraum."
Ruckartig setzte sich Martín wieder auf, sodass er wieder in den Fernseher schauen konnte.
Er musste sich verhört haben. Ganz sicher.
Andrés würde sich niemals für irgendwelche anderen (außer vielleicht Sergio und Martín) opfern, dazu war er einfach zu egoistisch.
Zumindest hatte Martín das immer gedacht, doch so oft er auch zurückspulte und sich die Nachricht noch einmal anschaute, änderte sich nichts.Er wechselte den Fernsehsender.
Immer noch nichts.Überall stand es ganz groß. Überall lief es.
Der meistgesuchte Juwelendieb Europas war tot."Nein."
Das war alles, was Martín hervorbringen konnte.
Alles um ihn herum schien sich zu drehen, als würde er Karussell fahren.
Ihm wurde schlecht, also stand er auf, öffnete ein Fenster und beugte sich heraus.
Die frische Luft tat gut, aber es änderte nicht an der Tatsache, dass Andrés tot war.
Langsam begann Martín zu realisieren, dass es wahr war, als er im Haus gegenüber die alte Frau vor dem Fernseher mit den gleichen Nachrichten sah.
Eine Träne floss ihm über die Wange, die er sich jedoch schnell wieder wegwischte und dann wieder das Fenster schloss, die Vorhänge zu zog und langsam auf den Boden sank.
Martín wurde noch kälter, als ihm ohnehin schon war, weshalb er seinen Morgenmantel noch enger an sich zog und sich vor der Heizung zusammenkauerte, denn er war zu schwach, um sich zurück auf das Sofa zu legen.
"Andrés", wisperte Martín. "Andrés..."
Seine Augen füllten sich noch mehr mit Tränen, sodass er fast nichts mehr sehen konnte.
Er hatte niemanden mehr. Zumindestens niemand, den er mehr wirklich liebte.
Seine Familie war schon vor Jahren umgekommen, und jetzt noch Andrés?
Zu wem sollte er gehen?Martín war jetzt alles egal, also raffte er sich mit letzter Kraft auf und zog sich normal an.
Es dauerte nicht lange, bis er den Stadtstrand von Palermo erreicht hatte, und obwohl es nicht warm war, sondern kalt, trist und ohne Menschen, die sich im Sommer hier versammelten, legte sich Martín in den Sand.
Oben kreischten ein paar Möwen, und für einen kurzen Augenblick schien ihm auch die Sonne ins Gesicht.
"Ich will am Strand sterben", hatte Andrés ihm einmal erzählt. "Friedlich. Ohne Schmerzen."
Als Martín daran dachte, griff er sofort in seine Manteltasche und dort nach seiner Pistole, doch er holte sie nicht heraus, denn er wusste bereits, dass er es nicht tun konnte.
Er musste vorher noch eine Sache erledigen.
Er musste die Bank von Spanien überfallen.